Sie schreit Zeter und Mordio. So viel Kraft und Lautstärke hätte ich ihrer Stimme gar nicht zu getraut. Die Frau muss doch schon mindestens 70 Jahre sein. „Helga“, schreit sie und „Du elende Schlampe“.
Helga, die Schlampe, ist nicht viel jünger, sagt aber kein Wort – ihr Blick funkelt und dann: rumms, sie schleudert ihre Tasche der Schreienden mitten ins Gesicht.
Die wird nun noch lauter und stürzt nach vorne, krallt sich in den Haaren fest. Dann liegen beide am Boden, wälzen sich. Das alles hat nur Sekunden gedauert. Ich bin noch ganz verdattert, will denn keiner einschreiten. Doch als ich mich von meinem Stuhl erheben will, drückt mich eine schwere Hand wieder nach unten: „Lass mal mein Junge, geht Dich nichts an.“
Wir schreiben das Jahr 1991 und ich sitze im „Pferd“ – so haben wir das „Goldene Hufeisen“ immer genannt, eine waschechte DDR-Kneipe, damals vermutlich Preisklasse I, sie hatte die Wende überlebt und war im Volksmund als „Happeldiele“ bekannt. Für uns Neuzugezogene war es nur kurz das „Pferd“ und ich mochte die Kneipe nicht. Ich trank lieber in der „Konni“ – der Konzertklause, aber heute hatte mich ein merkwürdiger Schweizer überredet.
Diesen Typen hatte irgendwer aus unserer Wohngemeinschaft bei einem Konzert aufgelesen und seit dem Aufwachen ging er mir gehörig auf den Sack. Ich solle ihm gefälligst die Stadt zeigen und etwas gastfreundlich sein. Das passte mir und meinem Kater vom Vorabend nun so überhaupt gar nicht, aber der Schweizer ließ keine Ruhe.
Also bin ich mit ihm zur Eisgrotte gelatscht und hab Frühstück spendiert und nach einer Ewigkeit standen wir dann vorm „Pferd“ – hier müssen wir rein, tönt er, das ist cool, das ist original Osten. Genervt trottete ich hinterher. Ich mochte den Laden nicht. Der Gestank vom Klo war mir immer zu derbe und der Wirt sah nicht vertrauenswürdig aus.
Doch dann saßen wir – zwei Pils, zwei Kurze.
Und das, obwohl mein Katerchen doch gerade eingeschlafen war. Der Schweizer nimmt sein Bier, süffelt schmatzend den Schaum ab und hebt den Klaren. Ich auch – doch dann schüttet er den Korn ins Bier.
Igitt! Warum?
Nun folgt ein halbstündiger Vortrag über seine Spezialerfindung, Klarer im Pils für mehr Umdrehungen. Er hatte auch einen ausgeklügelten Namen dafür erfunden. Doch den habe ich längst wieder vergessen – viel zu sehr beeindruckten mich die beiden Damen, die nun verkeilt auf dem Boden lagen.
Die schwere Hand auf meiner Schulter – die des Wirtes. „Die müssen da was klären“, sagt er. Beide haben sich wieder aufgerappelt. Die Schweigsame, also Helga, hat ein Kleid an, so ein richtiges Oma-Kleid, in dunklem Violett mit Rüschenkragen – das ist jetzt ein bisschen verrutscht, man sieht die Löcher in der Strumpfhose. Ihre Haare stehen in alle Richtungen ab.
Die andere ist die alte Kretzschmer, die habe ich auch in der „Konni“ schon ab und an gesehen. Sie blutet aus der Nase und sie steht schief, ein Absatz ist abgebrochen, jetzt schreit sie nicht mehr – ihre Finger spannen sich um ihre Tasche. Wie auf Kommando springen beide wieder vor, schleudern mit den Armen, die Taschen krachen aneinander – Kunstleder platzt auf.
Kippen, Deospray, Haarbürste, Tabletten, ein Flachmann und Kleingeld poltern zu Boden. Verwirrt schaut Helga zu Boden. Die Gelegenheit nutzt die Kretzschmer und kracht ihr die flache Hand ins Gesicht. „Nimm das und lass die Finger von meinem Peter“, sie wischt sich die blutende Nase mit dem Handrücken ab und stolziert merkwürdig hinkend von dannen.
Der Wirt hilft beim Auflesen des Handtascheninhaltes und in der Kneipe setzt wieder ganz normales Geplauder ein. Der Schweizer stößt mich an, was war denn das? Ich kippe meinen Schnaps runter, bestelle neu: zwei Pils, zwei Kurze. Liebe, philosophiere ich, Liebe und Leidenschaft – wer hätte gedacht, dass ich im „Pferd“ so etwas erleben darf.
War früher alles besser?
- Als kleine Erinnerungsstütze an die frühen 1990er Jahre werde ich in loser Folge ein paar Geschichten über die wilde Zeit von damals veröffentlichen.
- Alle Geschichten unter #Früher-war-alles-besser? oder in den Büchern „Anton auf der Louise“ und „Anton und der Pistolenmann“
Nachtrag 2015
Die Kneipe hat noch in den 90er Jahren zugemacht. Als eines der ersten Häuser wurde das Gebäude auf der Alaunstraße saniert, bekam einen prima rosa Anstrich und horrende Mietpreise. Später residierte hier ein italienisches Restaurant und seit ein paar Jahren eine Bar mit Molekularcocktails. Von derartigen Handtaschenschlachten ist mir aber nichts mehr zugetragen worden.
Nachtrag 2019
Das Only-One, besagte Molekularcocktailbar hat inzwischen auch zugemacht. Im Oktober eröffnet hier das Vegan House.
Früher, als die Tiere noch sprechen konnten und die Wirte noch Sozialarbeiter waren …
Ach, Anton, die Erinnerungen: In der „Happeldiele“ waren die Nägel von oben durch die Tischplatte in die Tischbeine gejagt, die Wand hatte im Ost-Westernlook eine Holzimitattapete und mein erster Besuch in besagtem Etablissement endete damit, dass dort zunächst Bierkrügerl, dann Stühle und zu letzt Leute durch die Gegend flogen – bis dann ein behördlicher Six-Pack vor der Tür stand… So man nicht der Grund für eine Auseinandersetzung dort war, wurde man meist unbehelligt gelassen, nur schnell den Teller und das Krügerl vom Tisch gehoben und diesen anschließend wieder aufgerichtet und weiter dem Theater gefrönt… Und Du als Zugezogener kennst wohl wirklich nicht den schöneren Namen der „Konzertklause“ – „Kotze“ – nicht?
Kann auch sein, dass ich die Bezeichnung verdrängt habe.
sehr schöne Geschichte!! vielen Dank!!!
@ Torsten
. . . hättest Du für ersteres in diesem Kommentar sicherlich
ein paar Gratis-Flugstunden erhalten . . .
@Neo
Wie romantisch!
mhmhmhm, ob Konny oder Happeldiele, alles aus meiner Kindheit, aber die „neuen“ Bewohner der Neustadt haben leider alles verändert … rosa Häuser sind nur ein Unding dabei :-( …
also der Italiener da- war lecker. Besonder die Spagettimit Pfifferlingen immer…
—-
rosa Häuser sind eigentlich doch viel besser, als immer diese grauen Klötzer…
Danke für den Artikel, da kommen wirklich alte Erinnerungen hoch. Ich war von 1971-73 im Internat am Terrassenufer (heute Hotel). Wir sind auch zur Happeldiele marschiert. Die Kneipe: total verräuchert, immer voll, die Kellner im schwarzen Anzug und ziemlich vergilbten (weißen) Hemden. Die Pferdebuletten waren einmalig und das für 1,50 MDN. Das alles wäre heute undenkbar.
ich kann mich noch daran erinnern wie überrascht ich damals war als der Kellner vom Hufeisen mich nach meiner Bierbestellung fragte ob ich ihm denn auch eins mitbestellen würde …
Danke du guter Anton für die wieder mal tolle kurzweilige Geschichte von Damals……..
grussi…..
PS: ist bei dir noch keine Sommerzeit—habe das 21.04 geschrieben ?!
grussi……
Zwischen 1971-1975 waren ungarische Studenten von der TU Dresden oft hier, sie haben die Happeldiele Pferdekneipe genannt und gerne geröstetes Pferdegehirn gegegessen. Einer war damals sehr verliebt, so war auch seine hübsche DDR-Freundin immer dabei.