Anita Krügers Wohnung ist gepflastert mit Bildern. Auf dem Sofa ruhen als bebilderte Kissen Pudel und Pinscher, von der Wand lächelt ein Dutzend Enkelkinder. Über die Schrankwand marschiert eine Elefantenkarawane. „Die sammel ich“, sagt Frau Krüger stolz. „Vergessen Sie auf keinen Fall zu schreiben, dass ich mit 40 noch meinen Betriebswirt gemacht habe!“
Geboren bin ich in Mickten und bin 1967 in die Neustadt gezogen, in die Kamenzer Straße. Da habe ich gewohnt bis 1995. Und von 1995 bis jetzt bin ich hier, in der Talstraße. Ich habe [1967] zu Weihnachten von der Schwägerin eine Wohnungszuweisung bekommen, denn wir waren kinderreich zuhause. Und da musste ich raus, weil ich ein Kind bekam. Da habe ich von der Schwägerin, weil die Beziehungen hatte zum Wohnungsamt – das war damals so – eine Zuweisung für die Kamenzer bekommen. Eine kleine Wohnung, aber wir waren für uns, mit dem Kind. 1970 sind wir ins Vorderhaus gezogen. Die Wohnung hatte ein Zimmer mehr. Dann habe ich gleich noch zwei Kinder hinterher gekriegt. Ich war ein bisschen schnell (lacht).
1969 wollte ich arbeiten gehen. Ich bin dann in die Krippe auf der Bautzner arbeiten gegangen, in der Küche. Da hatte ich gleich zwei Krippenplätze. Ich wollte immer arbeiten gehen, ich wollte nie abhängig sein. Da war ich bis 1974. 288 Mark habe ich verdient, 80 Mark hat die Krippe gekostet. Wir hatten 200 Mark – und wir haben uns gefreut. 50 Mark zum Leben unter der Woche haben ausgereicht. Und der Mann hat auch gut verdient, aber ich wollte selbstständig sein. 1966 habe ich geheiratet, 1997 ist mein Mann gestorben. Mit 50, das war ein bisschen hart. Das ist egal. Das ist vorbei.
Dann bin ich zu Pfunds gegangen. Dort haben wir bis 1990 gearbeitet. Da habe ich alles gemacht. In der Produktion habe ich angefangen, dann bin ich in die Küche. Da hatte ich Glück. Wir hatten Handwerker parat und alles. Wir hatten in der Neustadt ja an die 50 Geschäfte. Ich hatte Beziehungen, zu allen. […] Und jetzt? Der einzige, der noch da ist, ist der Bui. Die ganzen kleinen Geschäfte, die wir hatten … Das war schöner! Wir haben familiärer zusammen gelebt. […] Hier wohnen noch vier Mann auf der Straße, die alt sind. Na ja, das ist das Leben. Da müssen wir durch. […]
Auf der Kamenzer habe ich mir eine Wanne in die Küche gebaut, weil wir Außentoiletten hatten. Uns ging es nicht schlecht. Und durch meine Beziehungen sowieso. Freitags gab ich meinen Zettel beim Fleischer rein, abends habe ich mir mein Zeug geholt. Da bin ich mit meinem Rolli durch die Neustadt gefahren und habe eingekauft. Ich würde nie sagen, dass mir schlecht gegangen ist, mit meinen drei Kindern. Ich bin immer arbeiten gegangen. Nie ausgesetzt. Nach acht Wochen [nach der Geburt] sind wir wieder arbeiten gegangen. Ich bereue nichts. Ich hatte jetzt 70. Geburtstag, da haben sich meine Mädels bedankt, wie schön es war. Das ist ein schönes Dankeschön.
1990 hat die Geflügelwirtschaft zugemacht. Konkurs. Da hatte ich Glück, da sind zehn Mann von 100 Arbeitern noch mit auf die Hubertusstraße. Das war ein Betriebsteil von der Geflügelwirtschaft. Dort waren wir bis zum Konkurs 1997. Wir haben gearbeitet bis zum letzten Tag. Waren fleißig. Unsere Qualität war auch gut. 6000 Mark habe ich eingebüßt. 300 Überstunden hatte ich, drei Löhne haben gefehlt. Wir haben nichts bekommen. Der Kampf ging jahrelang. 2005 kam ein Schreiben: ‚Das Geld ist weg. Wir kriegen nichts und haben keinen Anspruch mehr.‘ Und da war’s das, für uns Alte. Und da habe ich 40 Jahre bei Pfunds gearbeitet für nichts, wenn du es so nimmst.
Dann war ich drei Jahre arbeitslos, ’97, ’98, ’99 und habe dann eine ABM gemacht. Ich war in der Ausgrabung bei der Frauenkirche. Hab ich ein Jahr mitgemacht, das war sehr interessant. Dann kam der Reglerwerkabriss. Ich habe immer schwer gearbeitet. Körperlich immer mit los gemacht. Dann machten Pfunds eine Ausschreibung, dass sie eine Reinigungskraft suchen. Und da bin ich gleich hin. Hampel war der neue Leiter. Aufgehört habe ich dann 2013. So hat sich mein Kreis bei Pfunds geschlossen. Das war mein Berufsabschluss.
Ich konnte nicht alleine sein. Gleich zwei Tage nach dem Tod meines Mannes habe ich mir einen Pudel geholt. Seitdem habe ich Hunde. Das ist meine Welt. Meine Kleine hier wird auch schon 14. das wird schwer, wenn die geht. So ist das Leben. So habe ich 50 Jahre Neustadt. […]
Wir waren früher abends in der Rendse mal ein Bier trinken oder tanzen in der Scheune. Der Härtel-Frank aus dem Haus arbeitet ja in der Scheune, der ist dort Hausmeister. Für uns Alte ist das nichts mehr. Das ist jetzt eine andere Zeit. […]
Ich hatte dann meine Schwiegermutter, die war hundert und konnte nicht mehr so, zwei Jahre hier – was heißt gepflegt – die war bis zuletzt einwandfrei. Dann ist sie gestorben, dann haben wir von meinem Freund die Mutti zwei Jahre lang gepflegt. Die hatte dann schwere Demenz. Das haben wir nicht mehr geschafft und sie ins Heim gegeben. Die wird jetzt 99. Wir hatten aber auch unsere Freuden.
Als die Oma hundert wurde, wollte die nochmal in den Urlaub fahren. Das haben wir gemacht. Wenn du es überlegst: mein Mann stirbt mit 50 und die Oma wird 102. Aber ich habe einen Guten gefunden. Meine Mädels sind auch zufrieden mit ihm. Wir hängen alle sechse in der Familie noch zusammen. Mit meiner Schwester fahre ich jedes Jahr in den Urlaub. Wir haben so ein Zusammengehörigkeitsgefühl. […]
Memento
Die Neustadt ist Kult, Szene und vor allem eines: jung. Doch im Viertel leben auch Menschen mit Geschichten aus einer Zeit, da in Dresden-Neustadt an Szene noch nicht zu denken war. In der Serie Memento stellen wir immer sonnabends Persönlichkeiten und ihre Viertelgeschichten vor.
- Haben Sie auch eine spannende Viertel-Geschichte zu erzählen? Nehmen Sie mit uns Kontakt auf.
Ach Anita, Du warst so schön und liebenswert.
Ganz herzliche Grüße
Paul Pfund