Das Wallgäßchen im Barockviertel ist ein Vogel in der Mauser: Aufgebrezelte Fassaden, bröselnder Putz. Es ist die Heimat eines Dresdner Malers, der in seiner eigenen Biografie unterging und hier, an seiner ehemaligen Adresse, mit einem Museum geehrt wird. Seine Geschichte ist bis in die heutige Zeit eng verflochten mit dem Schicksal der Stadt.
Eine Frau und ein Kind schauen von der Augustusbrücke auf die leeren Docks unter der Brühlschen Terrasse. Dramatisches Licht, die Wolken wie Luftschiffe. Hubschrauber kreisen über der Altstadt. „Dresden“ heißt das Bild von Hans Körnig. Im Jahr 1955 brachte er es mit dem Aquatinta-Verfahren auf Papier, dem Jahr seiner zweiten legendären Dachbodenausstellung am Wallgäßchen, seiner Wohnadresse bis 1961. Das Wallgäßchen ist eine der Grenzen, die seine Biografie prägten.
Es muss Winter gewesen sein, denn es riecht nach Frühling. Zum ersten Mal in diesem Jahr und man ist erleichtert, als hätte man gefürchtet, der Frühling könnte uns diesmal überspringen. Auf der Pieschener Allee, erzählt ein Freund, gibt es schon Bienen. Auf dem kleinen U des Wallgäßchens liegen Rosenblütenblätter – die kann der Lenz nicht hinterlassen haben. Sie bilden eine Spur zur Blumengalerie. Ladenbesitzer am Wallgäßchen müssen sich was einfallen lassen, um Flaneure von der Königstraße in Nebengassen zu locken.
Das Wallgäßchen führte bis zum Stadtbrand 1685 am Stadtwall entlang, der Altendresden, die alte Neustadt, begrenzte. Aus Schutt und Asche entstand mit linkselbischen Münzen das Barockviertel als Ableger der Altstadt. Ein teures Pflaster, heute noch. Am Wallgäßchen sind Gegensätze Nachbarn: Verramschte Hinterhöfe und Beautyfarmen, Splitterglas und Swaroski. Die Prisco-Passage, ein steinerner Torbogen, benannt nach einem italienischen Tuchhändler, ist ein Spiegelsaal der Eitelkeiten. Eine Tagesschönheitsfarm, Design-Möbelstücke („Free your personality“) und eine Frisieranstalt, die eine „individuelle Haarsprache“ verspricht. Ich betrachte mich in den spiegelnden Scheiben der American Herz Bar und versuche zu verstehen, was mein Haar mir sagt. Es könnte „Wasch mich“ oder „Lass mich“ heißen … Mein Haar spricht eine Fremdsprache mit hundert verschiedenen Dialekten. An Individualität scheitert es auf jeden Fall nicht.
Hinter der Ladenscheibe von Ehrlich und Richters sitzt meine Persönlichkeit auf einem tschitscheringrünen Polsterstuhl und winkt mir zu. Ich befreie sie, indem ich ihr meine abgelaufene Kreditkarte zeige. Sie zuckt die Schultern und begleitet mich weiter in den kleinen Innenhof, in dem Mama Afrika die Bäuche füllt. Hier steht das Hans-Körnig-Museum, gewidmet einem Kind der Stadt, Schüler von Otto Dix, der 1933 von den Faschisten seiner Professur an der HfbK enthoben wurde. Hans Körnig beendete sein Studium daraufhin aus Protest und schlug sich freischaffend durch, bereiste Europa, malte, bis er eingezogen wurde.
Aus dem Krieg kam er 1945 mit einem Unterschenkel weniger zurück. Die Bomben auf Dresden ließen sein Atelier am Wallgäßchen unversehrt. Man spricht in diesem Zusammenhang gern von „wunderbarer Weise“. Es war ein Aschermittwoch, an dem sich das ganze Ausmaß der Zerstörung der Stadt im Februar 1945 zeigte.
Hans Körnig malte Faschingsszenen, Zirkus, Straßengedrängel – alles mit einem spukhaften Charakter. In grellen Farbtönen, (alb-)traumhaft. Ein Maskenball in schwankenden Farben. Was ist Sein, was Schein? Ein Zweifelnder, ein clownesker Kritiker, ein liebevoller Chronist.
„Bleich, als sähe er Gespenster,
mustert uns Prinz Karneval.
Aschermittwoch starrt durchs Fenster.
Und die Zeit verläßt den Saal.“
schreibt Erich Kästner im Februar der 13 Monate, als hätte er im Sinn gehabt, ein Bild von Hans Körnig mit Worten zu illustrieren.
Dessen Ölgemälde füllen großformatig die Wände im „Körnigreich“. Seine Radierungen zeigen Alltagsszenen. In der DDR eckte er an mit seiner Unangepasstheit. Auf eigene Faust lud er die Künstlerszene 1954 und 1955 auf Dachbodenvernissagen in das Wallgäßchen ein. Das Publikum, darunter Penck, Baselitz und Dix, war begeistert. Die Ausstellungen wurden Legende. Das Aquatinta „Straße der Befreiung“, auf dem es scheint, als ob die Fußspitze des Goldenen Reiters die Flagge mit Hammer und Sichel kickt, beschert Körnig den Ausschluss aus dem Verband Bildender Künstler Deutschlands. Die deutsch-sowjetische Freundschaft sei darauf in Frage gestellt.
Hans Körnig war mit seiner Familie 1961 unangemeldet im Urlaub, als die Grenze geschlossen wurde. Er blieb auf westdeutscher Seite und lebte fortan in Niederbayern. Zeitlebens von der Sehnsucht nach Dresden, der Stadt, geplagt. Seine Gemälde verblieben in Dresden und wurden in Archiven verwahrt. Hans Körnig starb 1989. Auf private Initiative hin öffnete das Hans-Körnig-Museum 2010. Direkt unter dem ehemaligen Dach des Künstlers. Es gibt keine Zufälle.
Es ist der 15. Februar 2019. Die neuen Rechten marschieren und fordern neue Grenzen. Alte Brandstifter, altvertrautes Leid. Hubschrauber kreisen über der Altstadt. Die Sonne scheint. Und Aschermittwoch starrt durchs Fenster.
Das Wallgäßchen
- Die Straße auf dem Stadtplan von dresden.de