Am vergangenen Sonntag ist das Neustadt-Geflüster 20 Jahre alt geworden. Aber wer ist eigentlich dieser Anton Launer?
Wenn er aufwacht, greift er erstmal zum Handy. Mails checken, Kommentare freischalten, dringliche Geschichten verfolgen. Brennt es irgendwo, springt er sofort aus dem Bett und eilt los – schneller als jede Feuerwehr gucken kann. Steht eine Ladeneröffnung an, beginnt der Tag eher entspannter.
Mit seinem silbernen Fahrrad (ohne Helm) macht er sich über die Elbe ins eigene Geflüster-Büro. Ja, das liegt auf der anderen Elbseite – also auf der Unseren – , denn er – der Neustadt-Flüsterer Anton Launer oder in persona Jan Frintert – wohnt nicht hier bei uns, zwischen Prießnitz und Albertplatz.
Vor neun Jahren hat er sich der Liebe wegen auf die andere Seite der Elbe gewagt und berichtet, wie er es nennt „aus einem gewissen Abstand“. „Ich glaube, hätte ich auf der Görlitzer Straße weiterhin gewohnt, gäbe es heute das Neustadt-Geflüster nicht mehr. Ich wäre der Neustadt überdrüssig geworden“, sagt er. Überdrüssig, warum das denn?
„Das Viertel ist schon ziemlich intensiv – es ist laut, stickig, dreckig, man lebt hier einfach intensiver und schneller.“
Also geht es für ihn jeden Morgen über die schöne Elbe in die Neustadt – besser gesagt ins Stadtteilhaus, denn genau dort entstehen die Geschichten. „In der Neustadt sein, heißt für mich: Nie richtig Freizeit haben. Fast jedes Mal fällt mir eine Geschichte ein, wenn ich durch die Neustädter Straßen spaziere.“ Dresden außerhalb der Neustadt heißt also vor allem eines: KEINE Arbeit! „Es heißt Übernachten, Familie, Freizeit.“
Krimi-Geschichten gehen auch in der Neustadt gut
Im Büro angekommen, wird erstmal in die Statistik geschaut: Welche Beiträge gingen letzte Woche besonders gut, welche nicht? Komischerweise fällt ihm dabei immer wieder auf: Einen Imbiss-Test klicken an die 8000 Leser*innen, ein aufwändiger Bericht über die ökologischen Probleme der Heide wird von gerade so 2000 Menschen gelesen. „Kriminalität geht auch gut!“ Also nur noch Imbiss-Tests und Überfälle machen? Die Antwort ist sicherlich klar.
Kommentare lesen gehören zu seinem Alltag
Danach schaut er nochmal in die Mails und liest weitere Kommentare. Fast jedes Kommentar geht durch seine Hände und fast alle werden veröffentlicht. „Ich tu mich sehr schwer, mal ein Kommentar nicht zu veröffentlichen“. Unterstellungen, Beschimpfungen und Fäkalsprache duldet er nicht.
Etwa eine Stunde täglich verbringt er mit den Kommentaren. Da fragt man sich doch, wozu der ganze Aufwand? „Ich will die Interaktion der Leser fördern, außerdem sind einige Hinweise ganz gut, die Kommentarfunktion fungiert als meine Rechtschreibüberprüfung“, sagt er mit einem Lächeln um den Mund.
Generell steckt hinter seinen Sätzen viel Ironie, man kann gut lachen mit dem Journalisten – und diskutieren. Auch im Kommentarbereich kann er sich die ein oder andere bissige Erwiderung nicht verkneifen. Was ihm auffällt: Die Sprache der Kommentare verroht – aber noch was anderes hat sich geändert: Die Anzahl an Kommentaren wird weniger:
„Wo früher noch ein absolut konservativer Kommentar Gegenrede erfuhr, bleibt das heute einfach unkommentiert.“
Sind Meldungen und Mails gecheckt, verfolgt er eine Geschichte, trifft sich mit Menschen, plaudert mit Neustädter-Urgesteinen. Sitzt man mit ihm im Café, hebt er immer mal wieder die Hand zum Grüßen. Über viele hat er in der Neustadt schon eine Geschichte geschrieben. Sein skurrilstes Interview war übrigens mit der Partei Die Partei. „Der Typ kam in Anzug und Springerstiefeln. Selbst den Parteimitgliedern war der Beitrag im Nachhinein peinlich.“
Eigentlich wollte er eine Revolution starten
Einen halben Tag verbringt er mit dem Schreiben einer größeren Geschichte – ja das heißt im Fachjargon Geschichten, denn in Wirklichkeit sind Journalist*innen Geschichtenerzähler*innen – Reale Geschichten von Menschen, Orten, Politiken. Geschichten, die später geflüstert durch die Straßen ziehen und ihre Bögen schlagen.
Geschichtenerzähler*innen haben nie wirklich frei, sind immer auf der Suche nach der nächsten Story – auch im Urlaub arbeitet Jan mindestens eine Stunde am Tag. Er kann es nicht übers Herz bringen, einfach mal zwei Wochen das Online-Magazin auszuschalten. Ein Journalist also, wie er leibt und lebt.
Dabei hatte Jan Frintert als er 18 Jahre alt war, noch nichts mit Journalismus am Hut, er wollte lieber eine neue Revolution starten. Also zog er von Prohlis in die Neustadt – der passende Ort dafür: „Dort gab es alte, abgewrackte Häuser, Leute die im Vergleich zu den Häusern sehr bunt waren, dort gab es Punk-Rock und Freiraum. Da war Anarchie und alles möglich, also vielleicht auch eine Revolution.“ Mit dem Philosophie-Studium wollte Jan die theoretischen Grundlagen für die Revolution sammeln. Für Hausbesetzungen schien es zu reichen. Die Louisenstraße 44 „Das schwarze Schaf“ – bis heute ein Hausprojekt – besetzte er mit.
Spazieren statt „Revolutionieren“
Nach kurzer Zeit wechselte er zu Kommunikationswissenschaften und Politikwissenschaften. Die Revolutionsideen waren ihm im Laufe der Zeit abhanden gekommen. Seine Erklärung: „Zu viel Alkohol, Partys, Drogen – das mit den Drogen lass mal lieber weg.“ Doch etwas anderes packte den Studenten: Geschichten. Sätze, die bei Neustadt-Spaziergängen entstanden und einfach zu Papier gebracht werden mussten. Also schrieb er für die Sächsische Zeitung (SZ), die Dresdner Neuesten Nachrichten (DNN), machte Beiträge für Radio Dresden oder das MDR-Fernsehen.
Für die SZ brachte er wöchentlich, später monatlich eine Kolumne über die Neustadt raus, gleichzeitig veröffentlichte er diese Geschichten auf einem Blog. Die erste Kolumne erschien dabei übrigens am 23. Juni 1999 – der Beginn des Neustadt-Geflüsters. Als dann die Gelder der SZ für die Kolumne gestrichen wurden, blieb er beim bloggen. Und so kam eins zum anderen und anderes zu Einem: Das Neustadt-Geflüster entstand!
Eine Bilanz von Jan – dem dienstältesten Blogger aus 20 Jahren Flüsterei über die Neustadt
Du hast eine Kolumne mit dem Namen „Früher war alles besser?“. War früher wirklich alles besser in der Neustadt?
Na klar, weil man über die negativen Sachen den Schleier des Vergessens hängt. Aber im Ernst – es hat sich schon viel geändert: Als ich hierher kam, standen so viele Häuser leer. Ich war nie auf dem Alaunplatz. Wir haben uns einfach vor die Haustür, auf die Straße gesetzt – uns den Raum angeeignet. Wir haben hier gewohnt – also gehörte uns auch dieser Raum – das war UNSER Freiraum. Die BRN war persönlicher – das Publikum ist mir heute doch meist suspekt. Anonymität – am Ende als ich in der Görlitzer Straße wohnte, kannte ich niemanden in unserem Haus.
Und was ist besser geworden?
Die Luft – draußen und in den Kneipen und die BRN ist braver geworden.
Was ist die Neustadt für dich heute?
Ein teures, schick-saniertes Viertel mit einem hohen Anteil an intelligenten und kreativen Bewohnern (was man auch am Wahlergebnis erkennen kann), ein Viertel mit vielen Kneipen und einer hohen Kulturdichte. Ein intensives, lebendiges Viertel, dass es so nicht nochmal in Sachsen gibt – zumindest so konzentriert an einem Ort. Und ja auch in Dresden nur an diesem Ort, denn für mehr ist nicht Platz in Dresden.
Welche Probleme gibt es für dich in der Neustadt?
Das Thema Verkehr: Sowohl der ruhende Verkehr als auch der Verkehr drumherum, also die Bautzner Straße und Königsbrücker Straße. Die Idee einer autofreien Neustadt sollte bald beginnen.
Kriminalität – vor allem am Scheunevorplatz. Die Neugestaltung des Platzes hat zwar das Sicherheitsempfinden erhöht, aber statistisch haben die Gewaltdelikte eher zugenommen. Aber auch kein Wunder – am Wochenende kommen mehr Menschen in die Neustadt, da ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass einer mit einem blauen Auge davon kommt.
Ein weiteres Problem: die Mietpreisentwicklung. Der Wohnraum wird knapper, das Wohnen wird teurer, für meine Zwei-Zimmer-Wohnung hab ich vor ca. 10 Jahren noch 450 Euro bezahlt, das ist heute in vielen Straßen nicht mehr vorstellbar. Außerdem fehlt es an Luft und Freiraum.
Das Neustadt-Geflüster von Anton Launer berichtet heute als Online-Magazin über Kultur, Poltik, Kunst, Wirtschaft, Alltag und hat monatlich an die 50.000 Leser. Das Hobby-Bloggen entwickelte sich für Jan Frintert zu einem richtigen Beruf. Finanziert wird das Neustadt-Geflüster über Anzeigenschaltung. Innerhalb der letzten 20 Jahre veröffentlichte Jan zwei Bücher über die Neustadt und denkt über ein drittes Buch nach. Die Ideen dafür reichen von Neustadt-Rezepten bis zu Memento-Stories. Seit diesem Jahr hat er die Webseite erneuert und das Gendersternchen eingeführt. Rein sprachlich kann er es nicht leiden. Trotzdem findet er, dass es immer wieder dazu anregt, über Gleichberechtigung nachzudenken. Neben Jan gibt es noch drei weitere Mitarbeiterinnen. Jan übernimmt aber die Hauptarbeit. Doch wenn es dämmert am Abend, dann radelt der Neustadt-Flüsterer wieder über die Elbe mit ihren funkelnden Lichtern, von der Arbeit zum Übernachtungsort.
Sehr schön geschrieben! Ich lese jeden Morgen im Neustadt Geflüster, das gehört für mich einfach dazu. Weiter so! :)
Was wir uns schon länger fragen ! Ist diese Fidel-Castro-Gedächtnis-Mütze eigentlich mittlerweise festgewachsen, oder kann man die, zumindest theoretisch, noch entfernen ?
HAPPY BIRTHDAY !!!!!!!!
Obwohl seit sechs Jahrzehnten Sauerländer, lese ich das
Neustadt-Geflüster täglich mit viel Vergnügen und das
hoffentlich noch recht lange.
Doch heute eine Frage : der, die oder das Kommentar??
Viele Grüße und weiterhin gute Geschichten
Ich lese auch täglich das Neustadtgeflüster. Und bitte bleibt bei der Vielfältigkeit, ich mag eher was über die Ökologie der Heide lesen als noch einen Imbißtest (einfach als Ermutigung).
Bitte noch ganz oft das Geflüster in der Neustadt
Nach meinem Sprachverständnis – der Kommentar – oder begreife ich grade ne Anspielung nicht. Sorry. Ist heiß und ich hab grade keine Kappe auf. ;-)
P.S. Danke
Lieber Anton,
ist mir auch so geläufig. Warum dann im Text z.B.
Jedes Kommentar ? Es ist also eine Anspielung.
Ich geh‘ von nem Tippfehler aus. ;-)
@Anton, setz mal die Kappe wieder auf……
„fast jedes kommentar geht durch seine hände“
meint @Hadlich Arno, glaub ich…
aber was wäre ein Geburtstag ohne Tipfehler.
;-))
„Fidel-Castro-Gedächtnis-Mütze“ – die Kopfbedeckung des „el commandante“ sah nun aber deutlich anders aus.
Und ich habe Anton auch kürzlich schon ohne gesehen :-)
„Wo früher noch ein absolut konservativer Kommentar Gegenrede erfuhr, bleibt das heute einfach unkommentiert.“
Meine Meinung, Anton: Inzwischen sind wir eine Weile in Muttis Neuland unterwegs und wissen „Don’t feed the troll.“
Sicher in Deinem Blog auch dem geschuldet, dass nach meinem Eindruck bei einigen der speziellen Kommentatoren wohl jeweils die gleiche Person hinter verschiedenen Pseudonymen steckt, zu ähnlich sind sich doch Argumente und sprachlicher Stil. Die bekommt man mittels virtueller Diskussion nie und nimmer von irgendwas anderem überzeugt. Also amüsiere ich mich und lasse die Widerrede…
So so die Kriminalität ist also darum gestiegen, weil mehr Leute in die Neustadt kommen. Hm ich kann mich nicht erinnern, dass es in den letzten 20 Jahren hier mal „leer“ gewesen ist. Auch ist ein blaues Auge noch relativ harmlos. Schade, aber auch in diesem Blog werden vermeintlich politisch inkorrekte Tatsachen gemieden.
@statler&Waldorf
Die Mütze ist doch cool, habe ihn aber auch schon mehrfach oben ohne durch den Kiez radeln sehen. Beweis erbracht: Nicht angewachsen!
Was mir tatsächlich an Männeroutfits ein Greuel (sorry alte Rechtsschreibung) ist: Weiße Schon- T-Shirts, die aus Herrenhemden lugen (Brrrrhhh!). Haare, die aus Nasen wachsen (Brrrrhhhhh!!!)
Dieser schmucke Journalist hingegen ist ohne jeden Tadel und hat mir schon viele nette Leseminuten in meinem Pausen beschert. Herzlichsten Dank – und: happy birthday!!!
„Wo früher noch ein absolut konservativer Kommentar Gegenrede erfuhr, bleibt das heute einfach unkommentiert.“
Die Leser des Neustadtgeflüsters sind einfach in der bunten, vielfältigen und toleranten Realität angekommen. Ernüchternd, nich wahr?
Herzlichen Glückwunsch auch von mir und danke für’n Artikel.
Erfreulicherweise bietet auch dieser sehr zuverlässig Diskussionsgrundlage. :-) „Trotzdem findet er, dass es immer wieder dazu anregt, über Gleichberechtigung nachzudenken.“
Gleichberechtigung sollte man nicht denken, sondern leben. Wobei, beim Denken fällt auf:
In fünfhunderttausend Jahren Dresdner Siedlungschronik wird man keinerlei Hinweis darauf finden, dass hier im Tale jemals ausschließlich selbstbefruchtende Männer lebten, die ausschließlich Jungs zur Welt brachten. Allen war das zu allen Zeiten klar. Die Realität prägt die Erfahrungen prägt das Denken. Wenn eine Frau heutzutage das Sternchen braucht, weil sie sich bei „Dresdener“ diskriminiert fühlen möchte, sollte sie mehr um einen Therapieplatz für sich selbst kämpfen, als um Gleichberechtigung für alle. Möglicherweise und gewiss auch um ne brauchbare Berufsausbildung, manchmal reicht’s halt nicht für ne brauchbare Studienrichtung.
Exakt genauso ist das mit dem historisch veränderlichen Verständnis von Berufsbezeichnungen. Früher, zum Beispiel in der DDR, war man -und zwar völlig zu Recht- völlig überrascht wenn man zum Arzt ging, und plötzlich eine Frau vor einem stand. Frauen durften durchaus Arzt werden, manche waren’s auch, aber die meisten wollten doch lieber „nur“ mit einem verheiratet sein. :-)
Heutzutage ändert sich das, diskriminiert wird absolut niemand. Wenn also das Sternchen irgendwas verbessert, dann die eigene Albernheit….
Das Sternchen war und ist keine Sternstunde. Und Luisa wird schon auch noch schlau werden.
Dennoch nochmals: Danke für’s Geflüster und Glückwunsch!
Dann mal bunte, vielfältige und tolerante Geburtstagsgrüße von mir!
Vielen Dank vor allem auch für die Infos aus der Stadtteilpolitik. So wie man es nicht immer schafft, selber in den Himmel zu gucken, sondern die Wetter-App konsultiert, kann man ja auch nicht immer zur Stadtbeiratssitzung gehen – es sei denn man macht das beruflich ;-)
Happy Birthday Neustadtgeflüster :), danke für die vielen interessanten Beiträge und Geschichten,Infos etc. .. Auf die nächsten 20….
Danke :)
Ein riesen großes Dankeschön für all die Berichte!
Gerade wenn man im Exil lebt, ist es immer wieder schön, hier reinzuschauen.
glückwunsch zu den 20 jahren und ich hoffe die verrohten oder konservativen kommentare verändern dich nicht.
Fein machste das! Auf weitere 20 Jahre!
Herzlichen Glückwunsch und alles Gute. Ich lese die Beiträge und Kommentare täglich und wohne auch auf der anderen Elbseite.
Heißt es nicht: die Kommentare, der Kommentar, das Kommentärchen?
Übrigens, auf ein Sternchen pfeife ich, finde es total albern und sieht dazu noch doof aus.
Ich würde gern wieder Memento-Geschichte lesen, die haben mich immer ganz besonders berührt.
@Klahra, hatten wir erst kürzlich, am 26. Juni.