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Spuktakel unterm Kirchturm – Frankenstein in der St. Pauli Ruine

Frankenstein ist zurück! Unter der Kuppel der Apsis in der St. Pauli-Ruine treibt er sein Unwesen. Und nicht nur dort. Das neue Stück „Frankenstein“ im St. Pauli Theater bereitet einen vergnüglichen Abend, der die Zuschauer*innen in die entlegensten Winkel der Ruine führt und das Thema des berühmten Doktor der Weltliteratur und seines gebeutelten Geschöpfes mehrperspektivisch in den Blick nimmt. Unterhaltsam, aufwendig und meisterlich einstudiert. Am 19. Juli feierte es Premiere.

Gelöst nach der Premiere: Regisseur Jörg Berger bei der Nachfeier. Im Vordergrund rechts: Lydia Nordengrün (Elizabeth)

In einem Fenster des Nachbarhauses lugt ein Gesicht durch die halb geschlossene Jalousie. Was da unten im Park der St. Pauli Ruine an diesem Freitagabend vor sich geht, muss auch dem Außenstehenden unheimlich vorkommen. In Gruppen verfallen Menschen auf Befehl einer weiß verhüllten, maskierten Geistererscheinung in einen archaisch anmutenden Tanz. Sie legen Kultgegenstände in ein goldenes Weihegefäß, bevor sie auf ein Glockensignal in den Katakomben des alten Gemäuers verschwinden. Dorthin tauchte schon die letzte Gruppe ab und ward nicht mehr gesehen …

Wer ist eigentlich das Monster?

Die erste Hälfte des Grusicals „Frankenstein“ verbringen die Zuschauer*innen gestaffelt an fünf Stationen in und um die alten Gemäuer der St. Pauli Ruine. Der Charme des Gebäudes mit seinen Backsteinwänden, Kellernischen, Wendeltreppen und urigen Freiflächen kommt durch die Bespielung voll zur Geltung und wird mit dem angemessenen Grusel aufgeladen – wenngleich nicht ohne Augenzwinkern. Es handelt sich schließlich um einen Familienabend.

So wird die mordreiche Handlung des Klassikers von Mary Shelley an einer Station in einem Puppenspiel dargestellt. An der nächsten kombinieren zwei Schauspieler Auszüge des Originaltextes mit aktuellen ethischen Debatten zu Durchbrüchen in der Medizin zu einer philosophischen Betrachtung, die kritische Fragen aufwirft. Wer ist eigentlich das Monster? Der Schöpfer – oder die Kreatur?

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Eine rätselhafte Schnitzeljagd ums nackte Überleben führt auf den Friedhof. Im Keller lernen Zartbesaitete die Wonne des Schlotterns auf die harte Tour, während gestandene Horror-Connaisseure genießerisch entspannen dürfen (es gibt eine alternative Station für Angsthasen und Jugendliche unter 18). Stimmungsvoll und erhellend sind so die Grundlagen für den zweiten Akt geschaffen.

Frankenstein in Fortsetzung

Dieser findet auf der Bühne im ehemaligen Altarraum statt und schreibt die Geschichte des berühmten Doktor Frankenstein in der heutigen Zeit weiter. Der Enkel des mystischen Monstermachers, Dr. Frederick Frankenstein (gesprochen mit englischem Einschlag: Fronkenstien), ein redlicher, pragmatischer Mann der Wissenschaft, reist zur Beerdigung seines Großvaters in dessen Heimat Transsylvanien. Dort sieht er sich mit den Verlockungen der dunklen Seite konfrontiert.

Naturgeister auf dem Friedhof

Die Verheißung der Überwindung des Todes durch Leichenfledderei, leicht zu begeisternde, ausreichend qualifizierte, attraktive OP-Assistentinnen, größenwahnsinnige, experimentierversessene Butler und der Ruf des eigenen Blutes ziehen den bemitleidenswerten Doktor in ihren geheimnisvollen, sündigen Bann. Die Sache gerät aus dem Ruder und gebiert eine tragische Kreatur, der niemand glaubhafter hätte Leben einhauchen können als der grandiose Christian Preu. Galgen und Humor gehören zusammen und so geleitet das Ensemble mit viel Gags und Komik durch die düsteren Abgründe des Geschehens.

Ohrenschmeichelnde Musical-Einlagen

Fredericks Kämpfe und Krämpfe werden erzählt mit ohrenschmeichelnd intonierten Musical-Einlagen. (Am Buffet werden die Schauspieler*innen Yvonne Dominik und Matthias Krüger für ihre Ausdauer beim Einstudieren um den Hals fallen.) Dass die komplexe Raumakustik im dynamischen Bühnengeschehen nicht immer beherrschbar ist, bleibt ein vertrautes Problem, das dem Stück letztendlich jedoch nur geringfügig Abbruch tut. Schade war es um den Text des maskierten Chores, bei dem mehr Mundfreiheit das Verständnis erleichtert hätte.

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Ein Höhepunkt ist das rauchig geraspelte Solo „Er war mein Liebling“ von Steffi Gerbers in der Rolle der Schlossherrin Frau Blücher: Stimmgewalt, Melodie und Schmackes, als hätte die Schauspielerin zur Erarbeitung der Nummer auf einem Grammophon Kurt Weills Dreigroschenoper gehört und dazu das Gurgelwasser von Tom Waits getrunken. Lebendigkeit und Textur verleihen den Gesangs- und Tanzeinlagen Geige (Monika Hochmuth) und Piano (Matthias Krüger). Kunstvoll und mitreißend werden Hit-Adaptionen der Musikgeschichte jongliert.

Sonnenblumen für das Horrorkabinett. Mittig in OP-blau: Martin Rossmanith als Dr. Frederick Frankenstein

Slapstick meets Drama

In einem turbulenten Finale findet Frederick zu seiner Identität und jeder Tropf seinen Dackel. Es geht begeisterter Applaus nieder. Wie immer profitiert die Darbietung von Eifer und Spielfreude der Darsteller*innen. Alle sind hochkonzentriert und mit Enthusiasmus bei der Sache. Gleichzeitig wirkt das Spiel zu keinem Zeitpunkt verkrampft. Slapstick meets Drama, Texthänger meets Improvisationskunst.

Für die Premiere hat man sich ins Zeug gelegt: Giftgrüne und blutrote Schauder-Drinks, Würmer und Herzen auf den Naschtellern und spukig dekoriertes Barpersonal – der Satan steckt bekanntlich im Detail. Schauspieler*innen, Regisseur und Mitwirkende sind bei der anschließenden Premierenfeier sichtlich gelöst und stolz. Ein schrecklich schöner Abend.

Frankenstein – nach Mary Shelley

  • nächste Vorstellungen vom 23. bis 25. Juli, jeweils 20 Uhr, St. Pauli Ruine
  • www.pauliruine.de

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