Immer öfter drangen aus bürgerlichen Wohnungen der sächsischen Landeshauptstadt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur Kindergeschrei oder Streitereien der Ehepaare, sondern auch Volkslieder, Opernarien und aktuelle Walzer- und Tangomelodien.
Besonders junge Leute drehten die technische Grundlage dieser Geräusche, die Wiedergabegeräte, oft bis zur maximalen Lautstärke (gegenüber den heutigen Möglichkeiten war das damals jedoch ziemlich leise) auf. Darüber regte sich bei den relativ dünnen, nicht schallgedämpften Wänden mancher Nachbar ob des blechern klingenden Lärms auf, der dann mit Fäusten die Wände bearbeitete und den obligatorischen Krach im Treppenhaus zelebrierte.
Möglich machte diesen „musikalischen und kratzenden Krawall“ eine Maschine, die der Deutsch-Amerikaner Emil Berliner 1887 patentieren ließ. 1898 gründete er mit seinem Bruder eine diesbezügliche Firma in Hannover. Der Fortschritt war, dass man nun kein Orchester bei Festivitäten benötigte und grandiose Musik in den, ganz gleich wie großen heimischen vier Wänden hören konnte.
Runde Schellackplatten
Mit der Zeit wurden diese Geräte für immer breitere Kreise erschwinglicher. Im Gegensatz zum Phonographen des Thomas Edison, verwendete Emil Berliner keine Walzen, sondern runde Platten, auf denen Töne mechanisch aufgezeichnet wurden. Zunächst waren die Basisplatten aus Zink, die mit Wachs überzogen waren. In einem Ätzverfahren wurden die Töne dauerhaft eingefügt. Diese sogenannte Matrize diente als Vorlage für die Schellackplatten, die ab 1895 in den Handel kamen.
Schellack ist eine Mischung vorwiegend aus Gesteinsmehl, Kohlenstaub und Tierhaaren. Der Schellack diente als Bindemittel. Gegenüber Edisons Musikmaschine war das Grammophon ein reines Abspielgerät und damit preiswert herstellbar. Es entstand ein breiter Angebotsmarkt. Auf den Werbeseiten der Dresdner Nachrichten präsentierte die Firma Otto Jacob sen. aus Berlin als selbsternanntes „größtes Sprechmaschinen-Geschäft Deutschlands“ ihr „anerkannt vielseitigstes, vollkommenstes Musikinstrument des Jahrhunderts“.
Es gab unterschiedliche Modelle zwischen 38 und 84 Mark (umgerechnet heute zwischen 355 und 785 Euro), viel Geld damals und heute. Sogar ein Ratenkauf war möglich. So in einer Werbebotschaft in der Frühausgabe der Dresdner Nachrichten vom 24. April 1910 zu lesen.
Salonapparat Modell 20
Um den Umsatz anzukurbeln, gab es gratis Zugaben, wie 200 Nadel und Schallplatten, auf denen allerdings nur jeweils ein Lied war (die Geburtsstunde der Single). Der besonders angepriesene „elegante Salonapparat Modell 20“ war mahagoniefarbig poliert und mit Goldarabesquen versehen. Seine Maße betrugen 33 mal 35 mal 17 Zentimeter. Es besaß einen lackierten Tonarm und einen Blumenschalltrichter mit 52 Zentimeter Schallöffnung. ,
Ab 1910 wurden die riesigen Außentrichter immer unattraktiver. Sie verschwanden allmählich im Innern der Schrank- und Tischgeräte. Durch Holztüren oder seitlich drehbaren Lamellen konnte man zusätzlich auf die Lautstärke Einfluss nehmen.
Der damalige Zeitgeist des Historismus und des neuen modischen Jugendstils führte bei den Herstellern der Grammophone auch zu echten Stilblüten. So wurden die Gerätschaften unter anderem in Lampen, Statuen und in Blumentöpfen untergebracht. Das Beste, was die einsetzende Massenproduktion hervorbrachte, war, dass es nun auch möglich wurde, großartige Werke ganz privat zu Hause zu genießen.
Das betraf die immer noch gern gehörten Walzer der Strauß-Dynastie aus Österreich, genauso wie die Operettenmelodien aus Lehars „Lustiger Witwe“, Melodien aus dem am 26. Januar 1911 an der Semperoper uraufgeführten „Rosenkavalier“ von Richard Strauß und die bei den jungen Leuten beliebten Volks- und Wanderlieder sowie die als sexuell anrüchigen und gegen die guten Sitten verstoßenden Melodien des aus Südamerika gerade hereinschwappenden Tangos und die verwerflichen Schiebertänze. Und gerade daran hatten unsere Uromas und Uropas ihren Spaß.
Die sich in den USA entwickelnden Frühformen des Jazz brauchten noch zehn Jahre, bis sie nach dem Ersten Weltkrieg in Europa Fuß fassten.
Unterhaltungsabende
In die Dresdner bürgerlichen Kreise zogen neue Formate der privaten Vergnügungen ein, wie Unterhaltungsabende, die nicht mehr nur durch Wort- oder Gesangsdarbietungen geprägt wurden, sondern durch das Hören von Musik und das private Schwingen der Tanzbeine in den eigenen vier Wänden. Das merkten vor allem die großen Tanzetablissements der Stadt, die Besucherrückgänge verzeichneten. Ein frühes Beispiel für kulturelle Veränderungen im Zuge der Entwicklung neuer Technologien.
Noch preisgünstiger und damit für breitere Volksschichten erschwinglich, waren Grammophone zum selbst basteln. Die Technik konnte man sich schicken lassen und das Gehäuse musste man nach einer Vorlage selbst zusammenbauen. Dieses Geschäftsmodell wurde nicht von einer Möbelfirma aus Schweden erfunden. Die Hochzeit des Grammophons mit der Drehkurbel war übrigens gegen Ende der zwanziger Jahre. Danach hielten die elektrischen Varianten Einzug, die dann ab den 1950er Jahren durch Transistorgeräte abgelöst und später durch digitale Modelle ersetzt wurden. Die Schellackplatten wichen dem Kunststoff Vinyl.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universtätsbibliothek durchstöbert.