Als Reaktion auf die miesen Arbeits- und Wohnbedingungen der Proletarier im 19. Jahrhundert griffen viele zur Flasche. Alkoholismus war verbreitet.
Zudem konnte in vielen Unternehmen Bier während der Arbeitszeit getrunken werden. Die Folge: viele Arbeitsunfälle. Erst die Verbannung des Alkohols aus den Fabriken verbesserte den Arbeitsschutz. Die Trinkerei verlagerte sich in die Wohnviertel, hier im Dresdner Norden und Westen. Die Kneipendichte in der Neustadt war um die Jahrhundertwende ganz ohne Hipsterbars nahezu genauso hoch wie heute. Als sogenannte Arbeiterfallen in Form von Eckkneipen und Spelunken in der Nähe größerer Fabriken waren sie die erste Einkehr auf dem Heimweg nach getaner Arbeit.
Sehr zum Verdruss der Frauen, die immer weniger vom knappen Lohn für die Familien übrig hatten. Zudem waren die Eckkneipen aber auch ein wichtiger Ort für die politische Organisation der Arbeiterschaft in der Sozialdemokratischen Partei. Diese konnten nur da wirken, wo die Proleten wohnten, in Löbtau, Mickten, Trachau, im Hechtviertel, in der Äußeren Neustadt.
Deshalb bildeten sich nicht nur in bürgerlich-christlichen Kreisen Gruppen, die in der Abstinenz ihre Heilsbringerfunktion sahen und diese in die Arbeiterschaft zum Höheren von Sitte und Moral verbreiteten. Auch in den Gewerkschaften und in der Sozialdemokratie gab es eine starke Abstinenzbewegung. Walter Ulbricht soll übrigens auch in der späteren KPD Anhänger dieser Bewegung gewesen sein.
Der Hauptfeind der Abstinenzler waren neben den Lebensumständen die Bierbrauereien und die Schnapsbrennereien. Das Zentralorgan der Dresdner Sozis, die Dresdner Volkszeitung“ wetterte regelmäßig gegen diese Unternehmen. „Was fragt das Alkoholkapital nach menschlichem Elend, wenn der Profit ins Wanken gerät? In der skrupellosesten Weise wird offen oder auf journalistischen Schleichwegen die öffentliche Volksmeinung über den Alkohol von den Interessenten des Alkoholkapitals vergiftet. Weder auf die Wahrheit noch auf die nationale Gesundheit wird auch nur die leiseste Rücksicht genommen, wenn es sich um die erhabene Aufgabe handelt, die Menschen zum Trinken zu bringen. Mögen die Schäden des Alkoholismus weiter fressen, wenn nur der Profit nicht sinkt.“
Abstinenz schädlicher als Alkohol
Im konkreten Fall ging es um Plakate, die in Kneipen und Restaurants für alkoholische Getränke werben. Das zu unterbinden, hat sich im preußischen Frankfurt (Oder) der dortige konservative Regierungspräsident auf die Fahnen geschrieben. Das fand den Beifall der sozialdemokratischen Linken. Diese Plakate, die in ganz Deutschland aushingen, suggerierten, „dass völlige Abstinenz vom Alkohol sich schädlicher auf den Körper auswirken soll, als starker Alkoholgenuss.“ Der Regierungspräsident wies seine „Herren Landräte und die Ortspolizeibehörden an, dafür zu sorgen, dass diese Plakate aus den Kneipen und Wirtshäusern verschwinden.“ Auch lieferte er gleich eine politische und rechtliche Grundlage mit. „Die Wirte werden darauf hingewiesen, dass das Aufhängen derartiger Plakate bei einem Konzessionsentziehungsverfahren wegen Förderung der Völlerei als Beweismittel Verwendung finden könnte.“
Der Beifall der Abstinenzler in der Dresdner SPD für die Handlung des Frankfurter Regierungspräsidenten und der Forderung, dass auch die Sächsische Regierung eine solche Verordnung erlassen möge, kollidierte aber mit der Organisationsstruktur und den Versammlungsorten der Partei in den Hinterzimmern der Eckkneipen und Wirtshäuser. Und dort trank man nicht etwa Milch, Tee oder Haferschleim. In der Äußeren Neustadt gab es vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 150 Arbeiterkneipen.
Und in der Dresdner Volkszeitung las man am 18. Juli 1913: Zustimmend wurde vermerkt, „das ihm (dem Regierungspräsidenten aus Preußen) alle ehrlichen Gegner des Alkoholgenusses, der den Geist der Menschen verblödet, in der Sache Recht geben müssen. … Soweit der Erlass bezweckt und dazu beiträgt, Aufklärung über das unverfrorene Treiben des Alkoholkapitals zu schaffen, kann man ihn jedenfalls nur begrüßen. Besonders die Arbeiterschaft kann nicht dringend genug auf die großen Schäden hingewiesen werden, die der Fuselgenuss den Interessen der arbeitenden Bevölkerung zufügt.“
Das Ganze gipfelte in der Losung: „Fort mit dem Schnaps!“
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive durchstöbert.