Nein, dies ist kein Bericht über das sich ausdünnende Häufchen von speziellen Spaziergängern im Dresdner Zentrum. Es ist auch kein Beitrag zu einer philosophisch scheinenden Diskussion mit kulturellen Auffassungen einer Partei. Es ist ein kollektiver Aufschrei aus einer Zusammenkunft des sächsischen Konservativen Vereins der der sorglos dahintreibenden Mittelschicht im Königreich Sachsen per Artikel in der Sächsischen Volkszeitung am 20. April 1913 ins Stammbuch geschrieben wurde.
In besagter Versammlung forderte ein Redner, Amtsgerichtsrat Dr. Jauck, von den Bürgern Dresdens und der anderen Großstädte im Königreich mehr konservatives Empfinden.
Grundübel: Großstädte
Und daran macht sich das Grundübel der Abwesenheit konservativen Empfindens seiner Meinung nach bemerkbar: „Die Großstädte hätten trotz aller fortschrittlichen Errungenschaften eine sehr geringe Militärtauglichkeit ihres Nachwuchses. In ihnen (den Großstädten) seien die Hauptlager der Sozialdemokratie mit ihren alles Autoritätsgefühl zersetzenden Bestrebungen.
Hier zeige sich die Wirkung der ‚modernen Moralbegriffe‘ in den vielen Ehescheidungen mit ihrer Zerrüttung deutscher Familiensitte und Familiensinn. Die Großstädte sind zugleich auch die Hauptstätte des übermächtig gewordenen Judentums.“
Deshalb müssten durch aufklärendes praktisches Christentum Dämme dagegen aufgebaut werden, nämlich mittels Vaterlandsliebe und Königstreue, damit sich Deutschland in seiner feindlichen Umgebung weiterhin behaupten könne, so der Redner.
Feindbild Kino
Es gab aber noch weitere Dinge des damaligen Zeitgeistes, die dem braven Bürgersmann den Magen umdrehten und ihn nicht ruhig schlafen ließen. Da wären diese Neuerungen, die für ihn eine echte Volksgefahr darstellten – die Kinematographen. 43 Kinos gab es 1913 im Dresdner Stadtgebiet.
„Güter idealer, moralischer und ästhetischer Art unseres Volkes stehen (durch die gezeigten Filme) auf dem Spiel. Überhaupt das Gute, was in unserem Volke wurzelt, ist bedroht. In noch viel schlimmerer Weise wird das nationale Empfinden untergraben, wird fremdes Gift dem Volkskörper eingeführt. … Sozialer Klassenhass wird genährt, ja geradezu Revolution kann durch die mündliche Erklärung, die oft zu den Bildern hinzukommt (waren ja alles Stummfilme), gemacht werden. … Ganze Schwader von Giftpfeilen werden mit dem Pathos der sittlichen Entrüstung gegen die höhere Gesellschaftsschicht abgesandt.“
Rufe nach strengen Gesetzen, Zensur und nach Besinnung auf das deutsche nationale und traditionelle Kulturgut in Kinos, Theater, Museen, Literatur und Musik wurden laut und in den konservativen Blättern verbreitet.
Einen weiteren Zusammenhang mit der oben erwähnten verringerten Militärtauglichkeit der Männer im Alter zwischen 30 und 40 machten die Konservativen im gestörten Verhältnis dieser Altersgruppe zur bürgerlichen Ehe und Familie aus. Unter Angabe vieler Vorwände (noch nicht reif genug; ich kann nicht; es muss nicht gleich geheiratet werden; es fehlt der nötige Leichtsinn zur Ehe usw.) entzögen sich diese meist gut ausgebildeten, berufserfahrenen und eigentlich ernsthaften Leute ihren gesellschaftlichen Pflichten.
Verkümmerte Gemütsbildung
Die Dresdner Nachrichten vom 6. Oktober 1913 beschrieben diese Typen von Männer so: „Es handelt sich hier nicht um Sonderlinge, sondern um eine ganze Kategorie von unbewusst Gewissenlosen, die in Hochachtung vor sich ersterben, die sich selbst gebildet haben.“
Eine Ursache sah die Zeitung in der familiären und gesellschaftlichen Erziehung und deren Leitbilder. „Der Knabe tobt sich im Sport aus, der Korpsstudent genießt das Leben, der Freiwillige erwirbt den Schliff bei Heer und Marine und was fehlt? Das ist die Gemütsbildung.“ Diese sei verkümmert. Deshalb erging die Forderung: „Schafft fröhliche, feste, menschliche Charaktere und nicht pessimistisch angekränkelte Geister.“
Eine gewisse und damals zeitgemäße Art von „Genderbewusstsein“ hatte man auch parat. „Schafft vernünftige, anspruchslose, sittsame und züchtige Jungfrauen, die bei allem jugendlichen Frohsinn nie vergessen, dass sie einmal Hausfrauen und Mütter werden sollen und nicht den Hauptreiz des Lebens in allerhand Modetorheiten, gesellschaftlichen Vergnügungen, Sportspielereien und leichter Romanliteratur erblicken.“
Ohne dass die damals Lebenden den Fortgang der Geschichte ahnen konnten (die Mächte Europas schlitterten im Folgejahr in den ersten großen Krieg des 20. Jahrhunderts), erkennt man hieraus auch einige Ursachen der späteren „Dolchstoß“-Lüge (als Begründung der Monarchisten, Militaristen und Rechtskonservativen für die Niederlage 1918) und der Herkunft der Wortwahl und Ideen der sich in den Zwanzigern entwickelnden Nazi-Ideologie.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universtätsbibliothek durchstöbert.