Was Corona mit mir macht (Folge 1) – subjektiv, kritisch, widersprüchlich und optimistisch
Ich bin privilegiert. Noch. Ich arbeite zu Hause, sitze am Fenster und schaue hin und wieder auf die Straße. Ich wohne an einer relativ verkehrsreichen Straße, mit Straßenbahn- und Bushaltestelle vor der Tür, mit Einkaufs- und Arztmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe, mit schnellem Zugang zum Stadtzentrum, zur Elbe und zum Großen Garten.
Vor meinem Fenster erschließt sich ein grandioses Panorama mit stets wechselnden Menschen aller Altersgruppen an der Haltstelle und auf dem Fußweg. Schüler nach dem Unterricht, Mütter, die die kleinen in den Kindergarten bringen oder nachmittags abholen.
Männer und Frauen, die zur Arbeit fahren oder danach nach Hause. Meine Nachbarin mit 82 Jahren auf dem Weg in die Kaufhalle. Sie alle geben mir immer wieder Stoff für mein literarisches Schaffen. Ja, ich bin privilegiert und Risikogruppe.
Und jetzt: Corona
Corona hat etwas verändert und wird es noch weiter und unerwartet tiefgründiger tun. Nicht nur im Kleinen, im Persönlichen, im Familien- und Freundeskreis, sondern grundsätzlich in unserer Gesellschaft. Historiker, Soziologen, Psychologen und Kulturwissenschaftler, ja auch die sonst so gescholtenen Politiker werden diese jetzigen Zeiten einteilen in eine Zeit vor, während und nach Corona.
Ja, ich bin immer noch privilegiert. Da ich zuhause arbeite und ich dabei immer noch am Fenster sitze (während ich schreibe), sehe ich die Veränderungen. Seit Mitte März hat sich der Autoverkehr nahezu halbiert, Die Taktfolgen von Bus und Straßenbahn erweiterten sich. Auf einmal gibt es viel Platz darin. Kein Rempeln mehr, um noch einen Sitzplatz zu ergattern.
Platz in der Bahn
Dieser Tage, als mich mein Weg durch die Louisenstraße führte, hatte ich den Eindruck, ich wäre in einen hohen kirchlichen Feiertag gebeamt worden. Kaum Leute auf der Straße. Keine offenen Cafés, die zu einem Vormittagstrunk einladen. Conti und Blumenau zu.
Werden diese Einrichtungen, die liebgewordenen kleinen Spezialitätenrestaurants, die originellen Klamottenläden, die urigen Szenelokale für unterschiedlichste Interessen, die es nur hier in der Neustadt gibt und das Bild dieses Stadtteils prägen, Corona überleben?
Corona-Ferien?
Es gibt in den Bahnen auch keine bösen Blicke mehr, wenn nicht nur Schüler und Azubis mit ihren Rucksäcken ein ganzes Viererabteil als Einzelperson belegen. Weil Gymnasiasten, Mittel- und Grundschüler zurzeit weder die „13“ noch die „11“ benutzen! Weil die Schulen geschlossen sind.
Ja, ich weiß auch, dass die Jungen und Mädchen trotzdem keine Ferien haben. Sie bekommen via Internet Aufgaben für das Lernen zuhause. Weiß ich von meinen Enkeln. Jetzt zeigt sich, was das Internet an Positiven in sich birgt. Deshalb ist es großer Quatsch, wenn einige meiner Altersgenossen verlangen, dass die Schüler, die vor Beginn der Ausgangsbeschränkungen vor einer Woche noch in Gruppen im Alaunpark und auf den Elbwiesen rumlungerten, doch den Bauern in Radebeul bei der Spargelernte helfen könnten. Ja, es gab und gibt Unverständnis, Gleichgültigkeiten, Ignoranz, Dummheit und Bösartigkeiten in allen Altersgruppen.
Nein, auch den Meisten aus der jungen Generation ist inzwischen klar geworden, dass Corona keine Sache ist, die wie ein Schnupfen nach ein paar Tagen vorüber sei und die mit Vorliebe nur die Alten erwische.
Momentan ist leider Schluss mit Besuch bei den alten Herrschaften. Ich höre in meinem Bekanntenkreis, dass die Älteren die digitalen Möglichkeiten von Skype und WhatsApp nutzen, um mit Enkeln und Freunde auch bildlich zu reden. Das ist gut so, auch wenn das Digitale das Analoge in den menschlichen Beziehungen nicht ersetzen kann.
Digital-Schub
Es wird eine wichtige Erfahrung für „Nach-Corona“ sein: Das Digitale erfährt einen großen Schub. Und das Analoge wird eine besondere Wertschätzung erfahren.
Gut finde ich, dass sich die Enkel, und zunehmend auch andere Generationen, gegen Diskussionen im Netz wehren, sogenannte potentielle Risikogruppen, wie Alte, Behinderte, Raucher, Menschen mit Krebs usw. unisono wegzusperren, „in Quarantäne“ zu schicken. Man verbrämt das mit Argumenten, dass die Wirtschaft „schnell wieder laufen müsse“ und dass man die Jugendlichen, im Gegensatz zu den Älteren „nicht sehr lange ins Häusliche verbannen könne“.
Solche Dinge auch nur zu denken, ist für mich ausgesprochen zynisch. Die Alten ins Heim oder in anderen geschlossenen Areas wegsperren? Und ab welchem Alter gilt man als Alter, als Risiko? Generell ab 50 oder 60 oder selektiert nach Krankheitsbildern? Sie, diese Leute der Risikogruppen, haben ja keinen ökonomischen Wert mehr, kosten nur das Geld der arbeitenden Steuerzahler? Diese Ansichten sind leider bis in hohe politische und gesellschaftliche Kreise in allen politischen Farben vorhanden. Die Plattformen im Netz sind voll davon. Erschreckend realistisch erscheinen da die Phantasien der Autoren der Science-Fiction-Literatur von Orwell bis Huxley.
Ja, ich bin immer noch privilegiert. Ich schaue wohlbehütet an diesem schönen Vorfrühlingstag zum Fenster hinaus. Und nein, ich möchte nicht in Verhältnissen leben, in denen die Freiheiten des Einzelnen und die Freiheiten aller Menschen nur Schall und Rauch sind. Auch das wird eine Lehre für „Nach-Corona“ sein.
Bleiben Sie gesund!
Heinz Kulb
„Oh, seht mich an, ich bin privilegiert, aber es ist okay, denn ich spreche es an, das macht mich automatisch reflektiert und gebildet.“
Dann mach dir ’nen eigenen Blog, Heinz
Folge 2