Papierkörbe für Abfälle nutzen oder Kippen in die Gegend werfen? Warum Ordnung halten? Es gibt doch eine Stadtreinigung, die von unseren Abgaben finanziert wird. Wir können doch denen nicht die Arbeit wegnehmen.
Sich rücksichtslos an der Kasse im Supermarkt vordrängeln? Selbstverständlich! Ich bin ja noch werktätig und muss auch die Rente der hier Quatschenden erwirtschaften. Schließlich habe ich nicht den ganzen Tag Zeit.
Oder: Füße auf den Sitz gegenüber in der Straßenbahn legen und mit Rucksack und Beutel die anderen beiden Plätze daneben gleich mit besetzen? Ist doch so bequem. Wenn einer unbedingt einen Sitzplatz braucht, kann er doch den Mund aufmachen.
Oder lautstarke Telefonierer, die eine ganze Bahn am Gespräch mit ihrer Freundin über ihre Lebensprobleme und den Macken ihres Lebensabschnittsbegleiters teilhaben lassen.
Und die Delinquenten sind keinesfalls nur Jugendliche. Selbst ältere Menschen benehmen sich so, als hätten sie nie eine Erziehung im Elternhaus genossen. Darüber regen sich nicht nur heutige Zeitgenossen auf. Respektlosigkeit und mangelnde Höflichkeit bemängelten schon unsere Altvorderen.
Alle Generationen wieder
In einem Artikel in den Dresdner Nachrichten vom 14. Juli 1913 wurden derartige Unsitten besonders in den Personenzügen der Staatlichen Sächsischen Eisenbahn angeprangert. „Die Bahngesellschaft lege größten Wert auf Reinlichkeit. Dafür wurde viel Personal eingestellt“, so die Verwaltung in einer Antwort auf die Beschwerden von Reisenden.
„Leider bringe das Publikum diesem Bemühen nicht immer das wünschenswerte Verständnis entgegen. So werfen viele beim Aussteigen aus dem Zug Gegenstände aller Art, namentlich Essensreste, sorglos auf den Boden des Abteils“, was „eine Rücksichtslosigkeit gegenüber Mitreisenden“ sei, „denn eine Reinigung des Wageninnern während der Fahrt, solange dieses besetzt ist, sei nicht durchzuführen. Auch die Unsitte, die Füße mit schmutzigem Schuhwerk auf die Sitze zu legen, ist noch immer zu bemerken.“
Als ganz besonders gefährlich wurde im Artikel das Hinauswerfen von Gegenständen aus den Abteilfenstern, wie Flaschen, Gläser und sonstige harten Dinge gewertet, die Außenstehende auf den Bahnsteigen oder in der Nähe des Zuges Herlaufende, Radelnde oder mit dem Auto Fahrende schädigen könnten. Zudem werde die Landschaft verschandelt, hieß es im Leserbrief.
Wo bleibt die Erziehung?
Wissenschaftlich gesehen beginnen wir etwa im Alter von vier Jahren die Denk- und Verhaltensweisen von anderen Personen einzuschätzen und darauf langsam bewusst zu reagieren. Die Betonung liegt auf „langsam und bewusst“. Manche Zeitgenossen, damals wie heute, sind wohl noch nicht aus dieser Phase der individuellen Entwicklung herausgetreten.
Biologisch und genetisch gesehen, sind dafür der vordere und der seitliche Bereich des Frontalhirns zuständig. Und manche haben eben ein Brett vor diesem Frontalhirn. Diese armen Menschen können jedenfalls für ihre Rücksichtslosigkeit nichts dafür! Und noch eine Sache geben die Psychologen zu bedenken: Je größer die Anzahl der Mitmenschen um uns herum wird, je rücksichtsloser werde der Einzelne. Das kann im Falle einer Panik sehr problematisch werden. Unser Gehirn ist nämlich entwicklungsbedingt auf kleine Dorfgemeinschaften mit rund 150 Menschen ausgerichtet, die sich zudem nicht ständig begegnen. Steigt die Zahl um uns herum, werden diese Leute zu Störfaktoren. Rücksichtslosigkeit ist demnach eine natürliche Reaktion und ein Schutzmechanismus unseres Gehirns. Aha.
Was denn nun?
Ist damit das Handeln der stänkernden, umweltverschmutzenden, herumlärmenden Ich-bezogenen Zeitgenossen entschuldigt? Mitnichten.
Angeblich sollen wir vernunftbegabte Lebewesen sein. Weggucken nach der Methode „der Klügere gibt nach“? Ein guter Ansatz, der Stress und Ärger ersparen könnte. Wenn das aber laufend passieren würde, dann regierten letztendlich nur noch die Dummen. Was geht mich der Mist vom Nachbarn an? Soll der doch daran erstinken, obwohl der Mief bis zu mir dringt. Bloß keine Auseinandersetzung. Die bringt nur Ärger. Bloß keine Polizei. Ist vergeudete Zeit.
Höflichkeit gegenüber älteren Menschen ist andererseits aber auch nicht immer angebracht. Bieten Sie zum Beispiel einer sich vermeintlich in einer fortschrittlichen Lebensphase befindlichen Person einen Sitzplatz in der Bahn an, so kann es passieren, dass Sie dafür böse Blicke und abweisende Worte erheischen: „Bin ich schon so alt?“ Man hats nicht leicht, aber leicht hats einen.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universtätsbibliothek durchstöbert.