Heinz Kulb ist ein Chronist des Kleingedruckten. Mit historischen Polizeimeldungen, Heiratsannoncen und Werbeanzeigen wirft er Schlaglichter auf versunkene Schicksale. Anfang des Monats ist sein Buch „Schaufenster Dresden“ im Alwis Verlag erschienen.
„Früher herrschten noch Zucht und Ordnung. Das zumindest wurde stets von der älteren Generation der jeweils jüngeren immer wieder moralisierend unter die Nase gerieben. Ein Blick in die Polizeiakten belehrt uns aber eines Besseren.“ So leitet Heinz Kulb die Geschichte „Böse Buben“ in seinem neuen Buch ein.
Zwischen Fußschweiß und Glatze
„Schaufenster Dresden“ ist ein unterhaltsames Sammelsurium des Kleingedruckten mit dem denkwürdigen Untertitel „Zwischen Fußschweiß und Glatze“.
Anzeigen für Bartwuchsförderer und aufpolsternde Tinkturen, flehende Heiratsgesuche, Gerichtsberichte, Polizeistatistiken sind die kleinen Geschichten, mit denen die große Geschichte unterfüttert ist.
„Der Sommer 1911 war lang, trocken und sehr heiß. Alles stöhnte und nutzte jede Möglichkeit der Abkühlung. Baden im städtischen Brunnen? Fehlanzeige.“ Aus dem Kapitel Bekleidung und Essen bei großer Hitze im Sommer 1911
Heinz Kulb ist diesen Geschichten auf der Fährte. Durch über 125 Zeitungen und Zeitschriften forstet sich der empathische Chronist, immer auf der Suche nach der Dresdner Seele. („Das ist jetzt aber weniger theologisch gemeint, als es klingen mag“, sagt Kulb).
Die ist, wie man schnell erkennt, nicht schnell schwarz-weiß hingepinselt. Kulb stellt in Anekdoten und Schilderungen die Dresdner*innen vor 100 Jahren vor, ihre Alltagswehwechen, ihre sozialen Nöte und Zwänge, ihre Wochenendbeschäftigungen und verwegenen Entscheidungen.
Und so taucht man unverhofft greifbar in eine vergangene Lebensrealität ein, die sich erstaunlich auf die heutige reimt: unliebsame Eckkneipen, knallende Silvesterpartys, das Suchen und Finden der Liebe, Geldsorgen und (illegale) Lösungen dafür. Heinz Kulb entdeckt die Menschen in Zeitungsfetzen und Prospekten, geht ein paar Schritte mit ihnen und schlägt damit mikroskopische Brücken vom Jetzt ins Damals.
„Denn dort, in der Eckkneipe an den Straßenkreuzungen gelegen, wurde neben dem Bier- und Schnapskonsum auch politische Agitation betrieben.“ Aus dem Kapitel Alkohol ist Teufelsgebräu
Zeitsprünge in die Stadtgeschichte
„Ich habe meinen eigenen Stil gefunden“, sagt Heinz Kulb. Der missfalle besonders akribischen Hobby-Historikern. „Viele sehen Geschichte so verbissen.“ Nicht so der Autor, der mit Ironie, Witz und klugem Blick den Staub von scheinbar lapidaren Begebenheiten und Details pustet. „Allen liegen Fakten zugrunde“, versichert er. Der studierte Kunst- und Kulturwissenschaftler Heinz Kulb ist theoretisch im Ruhestand. Praktisch ist er ständig unterwegs und macht Zeitsprünge in die Stadtgeschichte.
„Ich bin nun aber die Tochter eines Gewerbetreibenden, der seinem Töchterchen zwar einmal das nötige Moos mitgeben wird, aber nicht die Gesetze über Standesmäßigkeit und Heiratskonsens umstoßen kann.“ Aus dem Kapitel Von wegen keusch und züchtig
Recherche war bereits während seines Studiums eine Leidenschaft, der er auch in seiner Freizeit frönte. „An regnerischen Sonntagen ging ich stets ins Museum. Allein. Freiwillig!“ Ein Hobby, das trotz der Studienausrichtung nicht viele mit ihm teilten.
Dem Studium an der Humboldt-Unisversität schloss sich die Arbeit für Radio und Fernsehen in Sachsen an. Auch für die Dresdner Neusten Nachrichten war Kulb in historischer Mission unterwegs. Mittlerweile schreibt er für das Neustadt-Geflüster – und eigene Bücher wie „Schaufenster Dresden.“ Lesend ist er ist er im St. Pauli Salon, beim TresenLesen und zwei- bis dreimal im Jahr mit seiner eigenen Veranstaltung, dem „Kaffeeklatsch“, im Valentino zu erleben.
Eine schwere Geburt
Das frisch erschiene Heftchen ist 48 Seiten schmal und war trotzdem eine schwere Geburt. Eigentlich sollte es bereits im vergangenen Juli erscheinen, berichtet Hein Kulb. Der Beschluss zu seiner Existenz war schnell und schicksalhaft gefasst: Auf der Buchmesse 2019 fiel Heinz Kulb im Vorbeigehen das Wort „Dresden“ ins geübte Auge und so stieß er auf den Verleger Gerd Sobtzyk aus Kaditz, der von den Geschichten sofort angetan war.
Dann lief einiges nicht nach Plan: Die Illustratorin ging verloren, die Suche nach einem Ersatz gestaltete sich komplizierter als gedacht. Schließlich war man in Weixdorf mit Nora Linne-Visconti fündig geworden, da kam Corona dazwischen. Ein nicht erschienenes Buch ist ein „Baby“, an dessen Existenz nach der dritten Termin-Schiebung Zweifel aufkommen. Doch jetzt endlich ist es vollbracht und das nächste schon in Planung: Band 2 soll 2021 erscheinen.
Heinz Kulb – „Schaufenster Dresden“
- mit Illustrationen von Nora Linne-Visconti
- erschienen im Alwis Verlag (www.alwis-verlag.de)
- Kostenpunkt: 5,95 Euro
Heinz Kulb schreibt auch für das Neustadt-Geflüster. Immer mittwochs erscheinen seine Kolumnen mit Berichten aus vergangenen Tagen.
@Anton
Zwei Dinge fallen auf: zum einen, dass durchaus charmant aus dem „Heinz“ in der Bildunterschrift ein „Hein“ wurde. Zum anderen eine signifikante Ähnlichkeit der beiden Schreiberlinge. Dein Bruder ?
https://www.neustadt-ticker.de/buchbestellen
Danke für den Hinweis, habe das „z“ nachgetragen. Nein, wir sind nicht verwandt.
Nicht verwandt – aber beide entstammen einem früheren DRESDEN FERNSEHEN. Oder?
Gut erinnert. Gab es dazu nicht einen Artikel im Universitätsjournal?
Müsst ich raussuchen lassen … der genaue Anlass war …?