2020, das liegengebliebene Jahr. So vieles blieb auf der Strecke, wurde vertagt, abgesagt, umdisponiert. Dass der Neujahrstext 2019 in der Schublade blieb, lässt sich ausnahmsweise nicht mit Corona entschuldigen, sondern mit einer anderen, uralten Krankheit – der Aufschieberitis. Halb so wild. Zu 2020 fällt einem eh nicht mehr viel ein. Alle Hoffnung liegt auf 2021. Deshalb kommt er jetzt, der Rückblick auf die Rauhnächte 2019 – zum Seufzen und rekapitulieren. „Wisst ihr noch vom vor’gen Jahr …?“
Nicht zurück blicken, bloß nicht zurück
Von vorn betrachtet ist Weihnachten eine Wand aus glitzernden Legosteinen und Spritzfett, von hinten sieht es aus wie ein vergessener Teddybär. Vorne Ho ho ho, hinten Oh oh oh.
Rasant ging es gefühlt wieder zu, im Nadelöhr Adventszeit. Die letzten Geschenke noch durch Türspalte geworfen, die Arbeitsplatte gewischt und dann: Nur noch die Fingerspitzen entkrampfen und sich einsaugen lassen in die gemütliche Stube. Das Jahr durch die Rippen schwitzen, Kreuze an die Decke machen, Trauerflore über Fotos kleben und nicht zurück blicken, bloß nicht zurück.
Von Stollen-Troll bis Glühweinkater
Zur Jahresendzeitreinigung fahre ich gen Arnhold-Bad. Tatsächlich, die Linie 13 hört hinter der Albertbrücke nicht einfach auf! Hier steht altbekanntes Personal am heißen Stein und beschwört Melissengeister. Im Nordbad wurde ausgekehrt und neu besetzt. Noch bis Dezember war hier mehr Mario. Jetzt muss man tingeln für ein Wiedersehen.
Was geschah seit Anfang Dezember nicht alles im Namen der Weihnachtlichkeit: Sauerkrautgesichter auf Tannenjagd, der Frauenkirchen-Gottesdienst (wegen verlegter Fernbedienung, sonst wären es „Vier Fäuste für ein Halleluja geworden“), ein überbordender Fahrradklingel-Kauf im Korb- und Rattanladen (ein Gehwegschreck aus Messing mit würdigem „Ding“, auf das qualvoll spät das „Dong“ folgt wie ein Tempelruf) und eben das übliche vom Stollen-Troll bis zum Glühweinkater.
Schweinehund, Phantomschmerz, Hang zum Übertrieb
Prian lebte wieder auf in der Schauburg und der Sprößling von Jens Maier, dem rausgeworfenen AfDer, bewies laut Zeugenberichten exemplarisch, dass „Eure Kinder werden so wie wir!“-Rufe hoffnungsvolle Prophezeiungen sind.
Weihnachten ist immer auch das Weihnachten der anderen. Meine guten Vorsätze sind mir unterwegs abhanden gekommen; drei Feiertage haben dafür gereicht. Vielleicht war das Vorsatz. Ach, die ganzen Marotten. Sie haben ihre Fressnäpfe nebeneinander stehen und werden bleiben: Der Schweinehund und der Phantomschmerz, die Ungeduld und der Hang zum Übertrieb. Da muss man sich keine Illusionen machen.
Frohes neues Ja-Ja-Jahr
Kreativere Schimpfwörter zum Beispiel hatte ich mir vorgenommen, um der Verrohung der Sprache homöopathisch zu begegnen. Als da wären Schlingel, Knispel, Bratze, Spuckotter. Poetische Umdeutungen wie Mondfinsternis, Pfuhl oder Einöde können als Beleidigung für den gehobenen Geschmack funktionieren. Im Diminutiv sind auch die althergebrachten zu ertragen: Schlämpchen, Kotzbröckchen, Wichserchen. Das geht runter wie Bratöl – hat aber nichts mit den leisen Flüchen zu tun, die mir in Anbetracht der zugeböllerten Elbwiesen nach Silvester auf den Lippen liegen. Ich bleibe dran.
Selbstfindung und Achtsamkeit, fasten und Ordnung halten – das kann alles mit auf die lange Liste, die sich mit dem Neujahrsklingeling nicht einfach auflöst, sondern weiterläuft wie die Nase, die Füße und die Geschichte. Frohes neues Ja-Ja-Jahr!
Selten war mehr Hoffnung
Tja, Sauna und Böllerei fallen beim Rutschen nach 2021 flach, die Jahresend-Melancholie bleibt. Corona hat für den Umstoß so mancher Tradition gesorgt, Unverzichtbares verzichtbar gemacht, Prioritäten neu gewürfelt und nicht nur eine „stille Nacht“, sondern eine „stille Zeit“ eingeläutet. Same procedure as last year? Nicht dieses Jahr.
Die Neustadt liegt in einem tiefen Schlaf. Traumwandelnd spazieren Menschen über die Plätze und Straßen, hinter den Fenstern flackert blaues Licht. Spazieren und fernsehen – zwei Tätigkeiten, die aufgrund ihrer Überfrequentierung und Professionalisierung bald mit in die Olympischen Disziplinen aufgenommen werden dürften.
Kein rauschendes Fest, kein Abschied Knall auf Fall – ein Jahreswechsel, so leise, dass man zu den Klängen aus Nachbars Boxen tanzen kann. Corona, du mieses Stückchen. Ich erhebe mein halbvolles Glas gegen dich und zeige dir unter der Maske die Zunge! Selten war mehr Unsicherheit, noch seltener mehr Hoffnung. Und Lametta.
Tausend Dank für deine Worte Philine! Ich liebe deine Sprache! Kotzbröckchen nehme ich mit nach 2021, danke!