Ich meine nicht den vor uns liegenden Jahresabschluss 2020, sondern den vor einhundert Jahren.
Die einen nutzten die letzten Tage dieses von den meisten verfluchten Jahres 1920, um zu schlemmen, andere wussten nicht, wie sie den knurrenden Magen beruhigen konnten. Einkommen durch Arbeit, wenn auch kein üppiges, hatten die einen, angewiesen auf eine kleine Stütze vom Arbeitsamt oder vom städtischen Armenamt waren die anderen.
Das Geld in den Portemonnaies war bei den meisten in fast allen Schichten knapp. Brot, Fleisch, das Gemüse, die Kohlen, der Strom waren rare Güter. Fast das ganze Leben war rationiert. Die Stadt verwaltete weniger ihre Bestände oder plante neue Entwicklungsmöglichkeiten, sondern koordinierte eher den Mangel. Die politischen Kräfte von Links und Rechts bekriegten sich und die ungeliebte Republik. Allenthalben sehnten sich viele in die geordneten Verhältnisse zu Kaisers Zeiten vor dem Großen Krieg und der Spanischen Grippe zurück.
Wo war der Winter?
Auch auf die Jahreszeiten war kein Verlass mehr. Schnee? Klirrender Frost? Nichts davon zeigte sich zum Ende des Jahres 1920. Schlitten und Schlittschuhe fristeten ihr Dasein im Keller. Auch die neue Wintergaderobe konnte nicht ordentlich in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Die Dresdner Neuesten Nachrichten spöttelten: „Jene kleinen netten Feen, die so sehr lieben, was man ‚Schick‘ nennt, halten sich für verpflichtet, ihre neuen leuchtend-bunten ‚Sportjacken‘ nebst Pudelmütze und Schal der Öffentlichkeit vorzuführen. Wer möchte es wagen, sie der Geschmacklosigkeit zu zeihen!“
Und auch die Oberschicht bekam ihr Fett weg. „Die neuen Reichen jammern in der drückenden Last ihres weihnachtlichen Zobelpelzes, der unerträglich ist in diesem frühlingshaften Wetter, aber sie tragen ihn doch oder fahren ihn spazieren: Noblesse oblige.“
Ihnen wurde geholfen. Naja, im übertragenen Sinne jedenfalls. In Pieschen, schrieben die DNN, wurden zwei Schaufenster eines Kaufhauses in der Nacht vor Silvester mit Pflastersteinen zertrümmert und verschiedene Pelzkragen, Muffen und Kleiderstoffe geraubt. Zumindest glaubten die Diebe wohl noch an die Rückkehr des Winters oder dachten vorausschauend an das Ende des neuen Jahres.
Unlust in der Silvesternacht
„Am erstorbenen Kaiserpalast gruselte sich förmlich die Grunaer Straße ins Dunkle hinaus, finster auch die Fenster des Victoriahauses“, las man in der Neujahrsausgabe der Dresdner Nachrichten. Die Trübnis der Stimmung wurde noch verstärkt durch einsetzenden Nieselregen. Einige Lokale hatten geöffnet, aber dennoch gestaltete sich dort kaum ein gewohntes silvestermäßiges Leben. „Hinter Vorhängen in verdunkelten Nebenräumen saßen kartenspielende Kellner, auf dieser Ecke ein leises Getuschel, auf der entgegengesetzten ein langweiliger Eigenbrötler. Dabei waren einzelne Wirtschaften hübsch und stimmungsvoll aufgeschmückt, z.B. das Italienische Dörfchen“, beschrieb der Redakteur der DN traurig diese Nacht.
Suff und Knallerei
Was blieb dann den braven Bürgern anderes übrig, als das Leid der Zeit in flammender Punschbowle, dem damaligen Modegesöff, zu ertränken. Schwankende Gestalten in Menge um Mitternacht mit Knallerei. Darüber monierte sich das Konkurrenzblatt der DN, die DNN, am 4. Januar 1921. „Der Lärm der Gassenjungen, die das neue Jahr mit Kanonenschlägen und Knallfröschen zu empfangen pflegen, war auch diesmal wieder so betäubend, dass der feierliche Hall der Kirchenglocken nicht in alle Quartiere klingen konnte.“ Hier gab es auch wieder den Ruf nach „vereitelnden polizeilichen Maßnahmen“, sprich nach Verbot der Knallerei.
Rückzug ins Familiäre
Nur kurz öffneten sich zur Mitternachtsstunde die Fenster, um ein „Prosit Neujahr“ in die Welt hinaus und zu den Nachbarn zu rufen. Dann verbreitete sich wieder Stille in den Wohnvierteln zu beiden Seiten der Elbe. Die Menge auf den Straßen und auf dem traditionellen Treff auf dem Altmarkt lief schnell wieder auseinander. Die Straßenbahnen waren leer, zumal man für die Nachtfahrten ins neue Jahr und nach Hause den dreifachen Preis verlangte. Man betrank sich, wenn man konnte, hinter zugezogenen Fenstervorhängen.
Das Fazit des Silvesters 1920 las sich in den Dresdner Nachrichten am Folgetag so: „Der erschreckt aufhallende Gesangsversuch ein paar junger Burschen, ein herunterwirbelndes Buntfeuer irgendwo, eine gemacht kecke Zusammenrottung bartloser Jünglinge, selten die Straße hinab lichtwinkende Autos, das alles ließ die Unfestlichkeit des Abends nur deutlicher werden, die dann auch ins neue Jahr hinüberklang.“ Ähnlich äußerte sich die sich sonst klassenkämpferisch gebende sozialdemokratische Dresdner Volkszeitung.
Wohlgemerkt, wie eingangs erwähnt, ich schrieb nicht über Silvester 2020!
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.