In der Dresdner Neustadt, mitten im Kneipen- und Szeneviertel, Görlitzer Straße 6. Dieses kleine, etwa 100 Plätze fassende Programmkino, in dem man bis 2008 während der Vorstellung noch rauchen durfte, ist eine über Dresden hinaus bekannte Spielstätte des besonderen Films. 2004 vom Dresdner Stephan Raack neu eröffnet, zählt es heute, vielfach preisgekrönt, zu den besten deutschen Programmkinos.
Doch die Wenigsten wissen von der sehr bunten und teilweise auch schlüpfrigen Vergangenheit dieses Etablissements, die bis in die 1890er Jahre des 19. Jahrhunderts zurück reicht. Nicht als Kino, sondern als eine damals weitere neue Unterhaltungsform, dem Varieté.
Erst Apollo …
Die Vorgeschichte des Thalia begann 1889 als „Apollo“ nicht an der bei Wikipedia und anderen Einträgen bei Google publizierten Adresse Görlitzer Straße 6, sondern ein paar Häuser weiter in Nr. 47. Laut dem Wohnungs- und Geschäftshandbuch der Königlichen Residenz und Hauptstadt Dresden ist unter dieser Adresse in Parterre der Inhaber Julius Fischer als „Schänkwirt zum Apollo“ verzeichnet.
Dieses „Apollo“ war eine ganz normale Kneipe. In Nr. 6 und in der ganzen Antonstadt wohnten ganz normale Bürger aus der arbeitenden Unter- und Mittelschicht, wie Gemüsehändler, Hebammen, Tischlergehilfe, Arbeiter, Briefträger, Eisendreher, Witwen, ein Stadtbezirksoberaufseher u.v.a.
Julius Fischer schien aber nicht zu der Sorte Menschen zu gehören, die nach der Devise lebte: „Wer nichts wird, wird Wirt.“ In ihm steckte mehr, als nur seine Gäste aus der Umgebung bis Mitternacht abzufüllen. 1894 zog er laut o.g. Adressbuch mit seinem „Apollo“ dann in die Nr. 6 ein. 1897 firmierte Julius Fischer dort als Schankwirt und Inhaber des „Apollo-Theaters“, später wurde er als Direktor des Selbigen erwähnt. Fischer hatte wohl einen Riecher für Innovationen des Zeitgeistes, die besonders die neue Mittelschicht im Kaiserreich vermögend machte.
In dieser Zeit entstand wohl auch der Saal mit Bühne im Hinterhof von Görlitzer Nr. 6. Der Saal war über ein Foyer vom Vordergebäude aus erreichbar. Der einfache Ziegelbau maß 15 mal 30 Meter und fasste in Parkett, Galerie und Logen 700 Besucher. Vom ersten Obergeschoss des Vordergebäudes gelangte man auch direkt zur Galerie.
… Varieté …
Als eine besondere Form der Unterhaltung wurde das Varieté in Deutschland in der 1860er Jahren etabliert. Inhaltlich war es eine Mischung aus Komik, Vorträgen, Gesang, Artistik, Tanz mit der Möglichkeit des Verzehrs von Speisen und Getränken. Sinngemäß übersetzt bedeutete das aus dem Französischen kommende „théatre des varieté“ Theater der Abwechslung oder der bunten Vielfalt.
In den frühen Jahren war diese Darstellungsform mit ihren derben und frivolen Possen auch noch ein fließender Übergang zur Prostitution. Gerade deswegen erfreute sie sich großer Beliebtheit bei den Unter- und Mittelschichten. Die Herren aus der Oberschicht besuchten, wenn überhaupt, diese schlüpfrigen Vorstellungen nur heimlich und inkognito. Ob das „Apollo-Theater“ in dieser Hinsicht ein frivoles Etablissement war, lässt sich nicht beweisen, wäre für die Anfangsjahre in versteckterer Form aber durchaus denkbar. Schenkelklopfende Possen präsentierte Fischer dann aber vermehrt im Endstadium des „Apollo“.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhöhten sich die künstlerischen Ansprüche. Damit verbunden war ein Verlust der gesellschaftlichen Kommunikation. Das Geschehen verlagerte sich auf die Bühne, die Besucher wurden zu Zuschauern davor degradiert. Mit der Einführung der elektrischen Beleuchtung und dem gestiegenen künstlerischen Niveau wurde der Zuschauerraum abgedunkelt. Das Bedürfnis der Gäste nach Zusammensein und Austausch verlagerte sich in andere Örtlichkeiten, wie Kneipen, dunkle Hinterhöfe, Toiletten, Privatwohnungen und Puffs. Konkurrenz bekam das Varieté nach 1900 durch das Kino und das Kabarett.
Fischer holte vor allem Künstler des heiteren Genres in sein Haus. Dabei waren u.a. eine ‚elegante Hundemeute‘ (was immer das sein mochte), ein Martin Vallée, Humorist und Schlagersänger, der Blitz-Verwandlungsschauspieler A. Angeloti, die Charakterduettisten Elsa und Rudolph Edelweiss, die Geschwister Samiramos mit ihrer „vollendeten Produktion am hängenden Bambus“, der Humorist Hofmann-Castelly als Buren-Hauptmann, das Fräulein Hedwig Margot als einzige weibliche Mimikerin oder das Schönheitsensemble von Fräulein Cleo d`Osterode. Ein Ewald Treffer präsentierte 1901 die neuesten und größten Fotografien.
Geworben wurde auch damit, dass die Straßenbahn der Linie Georgplatz – Alaunplatz alle fünf Minuten fährt und die Verbindung vom Hauptbahnhof nur 10 Pfennig kostete.
Ab Beginn des Jahres 1903 schien es dem Apollo wirtschaftlich nicht mehr besonders gut zu gehen. In den Anzeigen der Dresdner Nachrichten tauchte das Volkstheater von Direktor Emil Conrad auf, das sich mit volkstümlichen Stücken und Kindervorstellungen im „Apollo“ einmietete. Conrad zog es dann im Oktober 1903 in die Altstadt ins Palastrestaurant an der Ferdinandstraße.
Die Anzeigen fürs „Apollo“ in den Zeitungen wurden kleiner und einfacher. Es gab nicht mehr tägliche Vorstellungen. Am 31. Oktober 1903 wurde u.a. damit geworben, dass ein gewisser Opull, der Unverwundbare und Gefühllose, mit einem Luftgewehr auf sich schießen ließ. Und für November wurde Wessels schwebende Jungfrau angekündigt.
Das Jahr 1904 mutierte zum Jahr des Dahinsiechens dieser für die Neustadt so erfolgreichen Bühne. Die Anzeigen wurden im Umfang noch kleiner, die Superlative, wie „größter Lacherfolg“, „vorzüglichste Artisten“, „Riesenprogramm“ ausgeprägter. Ein kleiner redaktioneller Text ist in den Dresdner Nachrichten unter dem 4. Mai 1904 zu lesen. „Im Apollo-Theater gastiert gegenwärtig täglich die Varieté- und Konzertgesellschaft Albert Ehrenhaus für kurze Zeit.“ Dann war Stille im Annoncenwald. Geschäftsaufgabe? Wohl anzunehmen.
… dann Eden
Im Sommer 1904 kam es zu einem Wechsel der Besitzverhältnisse. Am 27. August 1904 gab es zur Eröffnung der Varieté-Herbstsaison die erste Vorstellung unter neuem Namen. Im Adressbuch für Dresden von 1905 sind als neue Inhaber die Brüder Erich und Alfred Lemcke als Schankwirt und Weinhändler verzeichnet. Das „Apollo“ erhielt einen neuen Namen: „Eden-Theater“ und die Gebrüder Lemcke waren auch dessen Direktoren.
Dieses Eden-Varieté-Theater hatte aber nichts mit der Reisebühne „Eden-Theater“ von Direktor Bruno Schenk zu tun, wie diverse Einträge bei Google vermuten lassen. Dieser Schenk tingelte mit seinem Etablissement seit 1889 durch die Lande. In Dresden gastierte Schenk mit einem Zelt sehr oft des Sommers über an der Grunaer Straße.
Verstärkt wurden im „Eden“ Burlesken gezeigt, so u.a. das Ensemble von Joseph Weinreiss aus Köln mit „Eine gestörte Brautnacht“ und „Wer ist es?“ oder Operetten mit dem Ensemble von Willi Harnisch aus Berlin.
Erst 1910 begann eine neue Zeit in den Gemäuern der Görlitzer Straße 6.
(Fortsetzung folgt)
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.