Es ist noch mal gut gegangen
Während des Ersten Weltkriegs vermehrte sich das Vermögen von Emil Winter-Tymian. Ein Kriegsgewinnler? Im weitesten Sinne wohl ja. Sein Gespür für Tendenzen im Wirtschaftlichen, wie im Künstlerischen und in den aktuellen politischen Entwicklungen ließ ihn auch in dieser schweren Zeit nicht im Stich. Und die Einmaligkeit seiner Kreativität zahlte sich weiterhin aus. Beliebt im Wohngebiet und beim Publikum blieb er trotzdem.
Laut Handelsregistereintrag kaufte er 1920 das neben dem Thalia-Theater stehende Haus Görlitzer Straße Nr. 4. Im Erdgeschoss dieses Gebäudes richtete er Büroräume ein. Das TTT wandelte er in eine GmbH um. Er selbst fungierte als Geschäftsführer und Gesellschafter. Das und der Immobilienkauf sollten sich bald als richtige Schritte erweisen.
In den beiden Häusern bezogen Angestellte des Theaters Wohnungen, so der damalige Theatersekretär und Prokurist Otto Gruner sowie der Theatermeister Max Helbig in Nr. 4 den 3. Stock. Der berühmte Damendarsteller und Schauspieler Fritz Thurm, genannt Silvaré bewohnte mir seiner Ehefrau Eliese Nemec den zweiten Stock. Erst 1933 zogen beide aus und ihre Spuren verlieren sich.
Emil Winter-Tymian fand auch seine bessere Hälfte, Clara Winter, geborene Standke. Beide zogen aus der Nr. 4 aus und leisteten sich in Oberloschwitz in der Adlerstraße Nr. 5 eine Villa.
Hunger und eine Republik auf wackligen Füßen
Nach dem Sturz von Kaiser und König zogen marodierende Soldaten als angeblich Bevollmächtigte des Arbeiter- und Soldatenrates durch die Stadt, drangen in Wohnungen ein und plünderten die Bewohner aus.
Mitte Dezember 1918 versuchten die Spartakusleute der USPD (dem Basisstock der künftigen KPD) in Dresden einen Umsturz, wollten das Polizeipräsidium stürmen, erbeuteten Waffen, zertrümmerten Schaufenster, durchsuchten das Hotel Stadt Gotha nach angeblich gehamsterten Lebensmittel. Am Konzerthaus in der Reitbahnstraße kam es zu einem 10-minütigen Schusswechsel mit einer anrückenden Soldateneinheit. Dabei erschoss eine Frau aus dem Spartakistenlager aus kurzer Distanz einen Soldaten mittels gezielten Kopfschusses.
Die Hungersnot verstärkte sich. Die Stadtverwaltung verbot allen Haushaltungen das Backen von Weihnachtsstollen. Den Bäckereien wurde untersagt, Teige und Massen aller Art für Stollen und Gebäck, die die Bürger zum Ausbacken in die Bäckereien bringen wollten, zum Backen anzunehmen. Arbeitskämpfe um höhere Löhne verschärften die Mangelwirtschaft.
Die schon nach Beginn des Krieges 1914 einsetzende Inflation verstärkte sich. Ende 1920 hatte die umlaufende Papiermark nur noch eine Golddeckung von 2 Prozent. Die Reparationen aus dem Versailler Vertrag, die negative Handelsbilanz, die Mangelwirtschaft und die politische Destabilität trieben die junge Republik in die Staatspleite.
Für Weihnachten 1920 standen den Neustädter Bürgern folgendes zu: 125 g amerikanisches Schweinefleisch pro Person (ab 6 Jahre) für 3.35 Mark sowie eine 125 g Leberwurstkonserve zu 1,50 Mark zur Verfügung. Kinder unter 6 Jahren stand die Hälfte zu. Gastwirte waren übrigens verpflichtet, 10 Prozent der Trinkgelder ihrer Kellner als Steuern abzuführen.
Ab 1921 wurden ungenutzte Räume, ungenutzte Fabriken, Zweitwohnungen und unterbelegte Wohnräume wegen Wohnungsmangel durch das Sächsische Innenministerium beschlagnahmt.
Unter dem 21. Februar 1921 erschien in den Dresdner Nachrichten die freudige Botschaft, dass es auf den Lebensmittelkarten ein Pfund weiße Bohnen gäbe, zum Preis von 80 Pfennig, sofern man bei seinem Lebensmittelhändler eine Anmeldung vornähme. Für Minderbemittelte, wozu inzwischen auch niedere Beamte und Angestellte gezählt wurden, verkaufte das Gewerbeamt im Rathaus für Knaben Konfirmantenschuhe zum Preis von 115 Mark. Und zum Mittagstisch empfahl die Zeitung ein vegetarisches Gericht: Kümmelsuppe sowie einen gebackenen Hirserand mit Grünkohl.
Elend ringsherum, jede politische Richtung strebte nach Macht, aber die Leute wollten Spaß. Und im Thalia ging die Show weiter. Zeitgemäß gab es einen Sketch nicht über weiße, sondern über grüne Bohnen und Madame Pompadour wurde zu einem Mann gemacht. Weihnachtsprogramme wechselten sich mit Fasching, Ostern und Couplets auf die Politik ab – alles aus der Hand von Meister Winter-Tymian. Hier konnte das Publikum die Alltagssorgen vergessen. Das war die Stärke dieses Hauses.
Und der Chef vergaß auch nicht seine soziale Ader. Seine von ihm gegründete Wohlfahrtsorganisation, die sogenannte „Fünferspende“ (5 Prozent des Eintrittsgeldes gingen an Bedürftige) lud immer wieder zu Veranstaltungen, zu der Winter-Tymian namhafte Dresdner Künstler gewinnen konnte.
Die Hyperinflation
Die Inflation erreichte Ende 1923 ihren Höhepunkt. Der Umtauschsatz: 1 US-Dollar = 4,2 Billionen Papiermark! Dresden hatte 52.000 Arbeitslose. Löhne und Preise explodierten. Die junge Republik war bei den Siegermächten und beim eigenen Volk hoch verschuldet. Das Volk verlor alle Rücklagen, die Wechsel auf die Kriegsanleihen dienten dem Anfachen des Feuers in den kalten Wohnungen.
Am Ende wurde der Staat der größte Profiteur der Inflation. Von den Kriegsschulden beim eigenen Volk in Höhe von 154 Milliarden Goldmark blieben zu Beginn des Jahres 1924 noch ganze 15 Pfennige (!) übrig. Der zweite Profiteur waren die Haus- und Grundstücksbesitzer. Diese wurden alle ihre Schulden los. Mit der entwerteten Papiermark wurde 1:1 zurückgezahlt. Vollendet wurde die Währungsreform mit der Rentenmark, am 16. November 1923 eingeführt, erst am 3. Juni 1924. Und unser Herr Winter-Tymian? Der wurde auch seine Schulden los, sowohl die auf seine drei Immobilien, als auch die Kredite auf das Theater.
Der Rausch der goldenen Zwanziger
So rauschig waren diese fünf Jahre des Aufschwungs leider nicht für alle. Der gewinnmachende Mittelstand und die bis dahin darbende Jugend nutzten die neuen Freiheiten und suchten das Vergnügen. Viele andere lebten von der Hand in den Mund. Denn die Reparationen drückten tief in das Staatssäckel und damit zusätzlich die Steuerlast der Bürger.
Die Görlitzer Nr. 6 war täglich ein Haus der Lustbarkeiten, des Frohsinns und des Vergessens. Winter-Tymian war nach wie vor kreativ und scharte gute Talente um sich. Er war in Dresden unangefochten zu der Institution witziger Unterhaltung auf gutem Niveau geworden. Dresden war zu diesem Zeitpunkt Deutschlands Hochburg des Varietés. Insgesamt 40 Spielstätten gab es in der Stadt.
Das Ende
Das kam am 16. September 1926. Das Herz des 66-jährigen Meisters konnte mit dem Turboleben nicht mehr mithalten und setzte mit dem Schlagen aus. Die Dresdner Nachrichten widmeten ihm einen wohlwollenden Nachruf. „Was Direktor Winter vor allem so bekannt gemacht hat, ist sein hochkomisches Couplet „Das ist der schneid´ge Tymian“, das ungezählten Tausenden die größte Freude bereitete.“ Im Film „Der Untertan“ nach Heinrich Mann, 1951 von Wolfgang Staudte als Regisseur inszeniert, wird das Lied „Am Elterngrab“ von Emil Winter-Tymian im Salon bei Diedrich Hessling vorgetragen.
Damit endete die hohe Zeit des Thalia-Theaters in der Görlitzer Straße Nr. 6. In den folgenden Jahren wurde das TTT als GmbH von verschiedenen Geschäftsführern weitergeführt. 1933 tauchte im Handelsregister der Theatersekretär Kurt Nemetz als Liquidator auf. Der letzte Eintrag als GmbH im Adressbuch der Stadt Dresden datierte von 1937. Ein Jahr später gehörte das Haus Nr. 6 dem Kaufmann Albin Paul Petzold. Der vermietete die Räumlichkeiten an den Sächsischen Gemeindekulturverband, der auch die damalige Wanderbühne „Landesbühne Sachsen“ führte. Dieser Verband blieb bis zur Zerstörung des Theatersaals 1945 dort. Das Haus Nr. 4 in der Görlitzer Straße übernahm 1941 eine gewisse Gertrud Probst.
Einen Wiederbelebungsversuch gab es am 21. Juli 1945 durch Direktor Max Neumann. Er eröffnete das neue Thalia-Theater im Neustädter Kasino auf der Königsstraße 15, dem heutigen Kulturrathaus, mit dem Lustspiel „Glück über Nacht“. Aber das Glück hielt nicht lange. Am 12. Januar legte die Sowjetische Militäradministration das Theater still.
Die Görlitzer versank in einen langen Schlaf. In den 60er Jahren richtete sich Hildegard Neumann im Haus Nr. 4 ihre Eisdiele ein, die „Eisgrotte“. Ihr Sohn Bernd Neumann betrieb diese bis zum Herbst 2000. Dann wurde das Erdgeschoss wieder ein Unterhaltungstempel, ein Programmkino im neuen Szeneviertel der Äußeren Neustadt. Wo sich früher die Küche und die Garderobe befanden, etablierte sich ein kleiner Kinosaal als Thalia-Kino. Vom alten Saal steht im Biergarten noch ein Mauerrest.
(Schluss)
Vielen Dank für diese großartige Serie über das Thalia! Gerne mehr davon
Lieber herr kulb, herzlichen dank für ihre immer wieder bereichernden und erquicklichen beiträge zum stadtteil. Ich freue mich immer sehr auf und über ihre stadtgeschichten. Gern würde ich etwas zur geschichte der schauburg lesen. Gabs da schon etwas? Mit herzlichen grüßen. Ihre schnatterente
Danke an Schnatterinchen und Sebastian für die freundlichen Worte. Ich werde immer mal wieder Kurzserien zu Gebäuden, Straßen, Ereignissen und Personen schreiben. Das erfordert einen großen Rechercheaufwand. Deshalb gibt es zwischendurch immer wieder mal Geschichten, die die Befindlichkeiten, Sorgen, Freuden und Merkwürdigkeiten von uns hier Lebenden im Gewand unserer Altvorderen heiter beleuchten. Und danke für die Anregungen. Die Schauburg ist vorgemerkt.