Erst krachte es. Eine Lok pfiff langanhaltend. Die Leute auf den Bahnsteigen hielten sich ob des Lärms die Ohren zu. Dann durchdrang lautes Quieken den Bahnhof. Eine gut gekleidete Dame mittleren Alters schrie auf, als sie eine riesige, blutende Sau auf sich zurasen sah.
Sie konnte sich vor Panik nicht bewegen. Die Frau, wohlbemerkt. Aber ein überirdisches Wesen oder dergleichen hatte Erbarmen und ließ sie in wohltuende Ohnmacht niedersinken. Die Sau sprang über die edle Dame hinweg. Deren blutende Wunden bespritzten die teure Kleidung. Wenige Schritte hinter der Dame brach das Schwein zusammen und röchelte seinem Ende entgegen.
Panik brach aus
Die Lebenserhaltungskräfte der auf den Zug wartenden Fahrgäste siegten über die Starre des Schreckhaften und sie stoben den Ausgängen zu. Die kräftigsten drängten die Schwächeren beiseite.
Manche Dame setzte ihren Schirm als Waffe ein. Kinder schrien und riefen nach ihren Müttern. Mancher Hut ging verloren, manches Jackett wurde zerrissen, mancher Schuh suchte seinen Besitzer. Koffer fielen auf die Gleise und Kinderwagen folgten ihnen.
Das Geschrei war ohrenbetäubend. Die nichtsahnend auf die Bahnsteige strebenden Leute drangen ob des Geschreis und des hier deplatzierten Quiekens neugierig nach vorn und versperrten den Flüchtenden den Weg. Und dazwischen suchten Schweine ebenso rücksichtslos und voller Angst ihren Weg und schürten noch mehr die Panik.
Was war geschehen?
Diese Frage beantwortete zwei Tage später, am 12. September 1913 die Zeitung Dresdner Neuesten Nachrichten. Hauptursache und Ausgangspunkt dieser dramatischen Ereignisse war eine falsche Weichenstellung auf dem Gelände des Bahnhofs Dresden-Neustadt. Ob absichtlich oder aus Schusslichkeit konnte bis zum Erscheinen der Information in der DNN noch nicht festgestellt werden.
Auf einem Nebengleis wurde ein Transportzug zusammengestellt. Darunter auch ein Güterwagen mit lebenden Schweinen. Diese gehörten zu den damals neuesten Züchtungen der sogenannten Large White, der weißen Schweine mit heller rosiger Haut, eine Kreuzung zwischen deutschem Landschwein und englischen Rassen. Nicht gerade billig.
Und durch ebendieser falschen Weichenstellung rollte der Wagen nicht auf die anderen Wagen des Güterzuges zu, sondern auf das sogenannte Hauptgleis, welches für die Personenzüge benutzt wurde. Und so nahm das Unglück seinen Lauf.
Just in dem Moment, als der Schweinewagon auf das Hauptgleis rollte, fuhr von der anderen Seite der Schnellzug aus Breslau in die Bahnhofshalle ein. Zwar hatte dieser die Geschwindigkeit bereits stark gedrosselt, aber sie war noch zu hoch, um den Zug sofort zum Stehen zu bringen. Ausweichen konnten also weder der Güterwagon noch der Schnellzug. Der Zusammenstoß war unvermeidlich. „Der Güterwagen stürzte um und wurde schwer beschädigt. Bei dem Zusammenstoß wurden drei Schweine getötet“, war in der Zeitung zu lesen.
Die anderen Schweine liefen ängstlich und ebenso von Panik ergriffen, laut quiekend über den Bahndamm und die Bahnsteige.
Die menschlichen Fahrgäste kamen mit einigen Blessuren, mit zerrissenen Kleidern und dem Schrecken davon.
Die Wiederherstellung der Ordnung
Dafür brauchte man schon ein Weilchen. Der Bahnhofsvorsteher reagierte schnell und ohne Panik. Die Fahrgäste wurden in die Vorhalle geleitet. Krankenschwestern versorgten Wunden und Blessuren. Kinder wurden beruhigt.
Alle Hilfskräfte im Bahnhofsbereich wurden zusammengetrommelt und begaben sich auf Schweinejagd. Das war nicht einfach, denn das Vieh war verängstigt und nicht so ohne Weiteres bereit, einen anderen Güterwagon zu besteigen. Letztendlich klappte es doch.
Ein Werkstätten-Hilfszug befand sich gerade im Gelände des Bahnhofs und so konnten die Trümmer des zerstörten Güterwagens schnell beseitigt werden. Die Lokomotive des Schnellzuges überlebte den Zusammenstoß ohne große Beschädigungen, ebenso die Personenwagen. Der Zug konnte die Reise fortsetzen, nur der Fahrplan geriet ein wenig durcheinander. Nachfolgende Züge hatten eine halbstündige Verspätung.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.