… hat es euch nicht geschmecket? Diese historische Fakenews1 wurde dem Martin Luther untergeschoben. Stimmt aber nicht. Obwohl der sich mit drastischen Ausdrücken in seinen Schriften und Tischreden wahrlich nicht zurückhielt.
376 Jahre später und am Stammtisch in der Kneipe „Stadt Werdau“ auf der Rähnitzgasse 13 in der Neustadt gab dies Paul Klemm, zum Besten. Sein Vater starb frühzeitig und so musste er das väterliche Droschkengeschäft am Bahnhof Neustadt übernehmen. Jeden Montag traf sich der Freundeskreis, so auch am 24. Mai 1897.
Das Thema des Abends
Traditionell legte der Wirt Otto Mareiner die Dresdner Montagspost auf den Tisch. Advokat Gustav Adam blätterte sie durch und sichtete sofort das Thema des Abends, die Untugenden des Benehmens bei Tische. Fleischermeister Max Roch lachte meckernd auf und prostete den anderen zu. „Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen.“
„Und füllen deine Schatulle“, ergänzte Schlossermeister Hermann Rosenmüller.
Aber Advokat Adam ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er finde es furchtbar, dass sich die meisten Zeitgenossen über die einfachsten Anstandsregeln hinwegsetzten und las aus der Zeitung vor: „…, dass man in gerader Haltung bei Tisch sitzen und nicht seinen Nachbarn durch Auflegen der Ellenbogen beengen sollte.“
Und Bäckermeister Wilhelm Mertig ergänzte über den Brillenrand blickend: „Ebenso sei es selbstverständlich, dass man seinen Tischgenossen nicht das Mahl verekeln sollte durch die glucksenden und zwitschernden Laute, die leider so manche Menschen beim Schlürfen der Suppe oder nach getaner Essensarbeit entwickeln.“ Wilhelm Mertig erwähnte, dass in China und Japan das Rülpsen als Kompliment an den Gastgeber gelte. Großes Amüsement am Tisch.
Gustav Adam setzte unbeirrt fort. „Dass man das Messer nicht zum Munde führen darf, ist eine ebenso elementare Grundregel und der Gipfel des Entsetzens ist, wenn man das Messer zum Zerteilen des Fisches benutzt.“
Klempnermeister Julius Winkler fand seine Skepsis über die guten Manieren der Deutschen in der Montagspost bestätigt. Darauf setzte er ein Prost. Aber dann goss er Wasser in den Wein.
„Überall muss man erfahren“, so las er vor, „dass es in unserem lieben Deutschland unter den Gebildeten und Wohlerzogenen eine nicht unbedeutende Anzahl gibt, die mit den Regeln der guten Lebensart bei Tische eine nur recht oberflächliche Bekanntschaft gemacht haben, oder die, wenn sie mit ihnen wirklich bekannt wurden, zu bequem oder zu rücksichtslos sind, um sich danach zu richten.“ Zustimmung am Stammtisch. Und ein Zuprosten in der Runde.
„Halt“, ruft augenzwinkernd Paul. „Erst anstoßen, wenn jeder ein gefülltes Glas hat. Das gehört zu den guten Manieren“
Gastwirt Mareiner servierte die Grundlage für das heutige Gelage: Kassler mit Sauerkraut und Kartoffelklößen, während die Diskussion weiter ging.
Wer könnte Vorbild für gute Tischsitten sein?
Die Engländer, meinte Droschkenunternehmer Paul Klemm. Die könnten zwar nicht kochen, verdrückten aber angeblich pfundweise blutiges Fleisch und halbrohes Gemüse. Aber wie sie dieses Zeug bei Tisch zelebrierten, sei schon vom Feinsten.
Er habe übrigens da in der Montagspost einen Witz gefunden, erwähnte er beiläufig. Darauf wartete die Gruppe schon die ganze Zeit und Paul hatte die Aufmerksamkeit. „Ein Engländer, ein Franzose, ein Deutscher und ein Russe sitzen in einem Café. Der Kellner serviert jedem eine Tasse Kaffee. Durch widrige Umstände hat sich jeweils eine Fliege in die Getränke zum Bade niedergelassen. Wie reagieren wohl die Herren?“, fragte Paul, eine Augenraue hebend, in die Runde. Schulterzucken.
„Nun, der stolze und steife Engländer sagte gar nichts. Er bestellte sich eine neue Tasse. Der leichtfüßige Franzose stellte den Kellner in schwungvoller Rhetorik über die Unsauberkeit in diesem Etablissement zur Rede.“ Und der Deutsche sei wohl zu verlegen, meinte Hermann. „Der Deutsche brummelte nur unverständliche Worte in seinen Bart, entfernte die Fliege mit dem Zeigefinger und legte sie auf den Rand der Untertasse.“ Jetzt waren alle gespannt auf die Reaktion des Russen. Paul grinste, die Spannung hebend, von einem zum anderen schauend. „Der stößt mehrere nicht ganz verständliche stimmlose und stimmhafte Zischlaute und Konsonanten aus, sagt mit stoischer Ruhe ‚Pfui mucha‘ und schluckt in einem Zug Kaffee mit Fliege runter.“ Schallendes Gelächter. Übertriebene Sittlichkeit halbiere wohl den Genuss. Darin war sich die Runde einig.
Die ultimative Wirkung des Abendmahls
Die ließ nicht lange auf sich warten. Die Milchsäurebakterien im Sauerkraut taten ihre Wirkung im Zusammenspiel mit Bier und Schnaps und machten die guten Manieren vergessen. Rot anlaufend flatulierte Fleischermeister Max, wobei die hölzerne Sitzfläche seines Stuhles vibrierte, was die Lautstärke des Entfleuchteten echohaft verstärkte. Böse Blicke sandte Gustav Adam aus.
„Aus einem verbiesterten Arsch kommt halt kein fröhlicher Furz. Wobei wir wieder beim seligen Martin Luther wären“, lachte Max und kippte seinen Korn runter.
Die sich langsam verbreitenden Glücksgase aus Methan, Schwefeldioxid, Schwefelmonoxid und Sickstoffmonoxid lösteten eine reflexartige Fluchtbewegung aus. Bezahlt werde morgen.
1 Mehr zu historischen Fakenews in Zitatform in dem Buch „No Sports“ hat Churchill nie gesagt: Das Buch der falschen Zitate von Martin Rasper, erschienen im Ecowin-Verlag.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.