Erschrockene Blicke, die Hände vor den Mündern haltend und lautes Grollen aus männlichen Kehlen – die sonst geschäftiges Treiben gewöhnte Hauptstraße hielt an diesem warmen Frühsommertag des Jahres 1913 den Atem an. Eine Frau auf einem Fahrrad hielt vor dem Restaurant Reichs-Automat im Kopfbau der Neustädter Markthalle an.
Nicht die Tatsache, dass eine Frau mit dem Rad unterwegs war, ließ die Leute zunächst staunen und dann ihrer Empörung lautstark kundtun, sondern wie sie angezogen war. Diese Radfahrerin trug statt eines sittsamen langes Kleides – Hosen!
Frauen in Hosen
Waren schon die eng nach unten verlaufenden und die Knöchel den gierigen Männerblicken freigebenden Humpelröcke des Pariser Modeschöpfers Paul Poiret ein Skandal, so waren diese weiten Hosen der Radfahrerin, die unterhalb des Knies gebunden waren, erst recht eines Aufschreis der sittsamen konservativen Dresdner Öffentlichkeit würdig.
Die einen verorteten diese Dame in die nahe Rähnitzgasse und in die dortigen Puffs. Andere sahen in ihr eine Unterstützerin der Frauenrechtlerinnen, die doch die blasphemische Forderung aufstellten, dass das weibliche Geschlecht wählen dürfe.
Eine, wohl gebildete Dresdnerin, warf ein, dass dieses unsittliche Kleidungsstück auf eine amerikanische Frauenkämpferin namens Amelia Bloom zurückgehe. In deren Dunstkreis trug man als Ausdruck von fordernder Gleichberechtigung das männliche Bekleidungsutensil – relativ weit geschnitten und knöchellang.
Und das Problem beim Radfahren war, dass sich lange Hosen und Kleider in den Radketten verfingen, die Kleidung beschmutzten und einrissen. Für die Männer wurden als Hilfe die Knickerbockerhosen erfunden. Und für die Frauen? Für die gab es die Pumphosen. Natürlich auch von den unsittlichen Pariser Modeschöpfern erfunden, was das brave Bürgertum zur Empörung trieb.
Das Automatenrestaurant
Unsere Radfahrerin, sich ihrer Wirkung auf das spießige Volk voll bewusst, stellte ihr Rad an der Wand des Kopfbaus der Neustädter Markthalle ab und verschwand im Eingang des erst kürzlich eröffneten Automatenrestaurants von Max Adolf Schmidt. Das waren Selbstbedienungseinrichtungen. Das sparte qualifiziertes Servicepersonal und deren hohe Kosten.
Damit folgte Schmidt einem neuen Trend, den Ludwig Stollwerck 1896 in Berlin auf der Leipziger Straße begann und zwei Jahre später in die USA exportierte (nicht umgekehrt!). Bis zum Ersten Weltkrieg gab es etwa 50 Restaurants dieser Art in Deutschland.
So schnell, wie unsere mode- und selbstbewusste Radfahrerin im Reichs-Automat verschwand, so schnell war sie wieder draußen. Inhaber Schmidt verwies sie ob ihrer, seiner Ansicht nach, unsittlichen Kleidung empört seines Hauses. Erst sehr langsam wurden derartige Rad fahrende Damen in Restaurationen eingelassen. Sie mussten sogar nachweisen, dass sie wirklich mit dem Fahrrad unterwegs waren.
Auch Männer hatten es nicht leicht
Nicht, dass sie Pumpkleider beim Radfahren tragen wollten, sondern kurze Hosen in dieser sommerlichen Wärme. Das betraf besonders die jüngeren modebewussten Großstadtmänner. Lange Hosen und langärmelige gestärkte Baumwollhemden trieben ihnen den Schweiß geradezu aus allen Poren, was im Laufe des Tages für tolle Gerüche in deren Umgebung sorgte.
Die Dresdner Neuesten Nachrichten griffen in diesen sommerlichen Tagen des Jahres 1913 dieses, starke Emotionen hervorrufende Thema auf. Der Redakteur dieses Artikels zeigte aber ganz deutlich seine Haltung zu den kurzen, wadenfreien Hosen. „Es gibt Menschen, die beim Anblick auch nur eines an sich harmlosen nackten Teilchens am Menschen schon Sünde wittern. Was für ein hässliches Innere schaut durch solche Augen. Pfui Teufel.“
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.