Ein gewaltiger Blitz erleuchtete diesen fast finsteren Julinachmittag des Jahres 1913 in unwirklichem Licht, darauf folgte unmittelbar ein gewaltiger Donner und der Himmel öffnete seine Schleusen. Erst Hagel, dann ein Wolkenbruch. Der Albertplatz verwandelte sich in einen See aus Wasser und Eis. Amalia Hirschfeld wartete mit Schirm auf die Straßenbahn der Linie 12.
Ihr Ziel der Trachenberger Platz. Ihr Schirm hielt dem Unwetter nur unzureichend stand. Ihr Kleid durchnässt, das Haar zerzaust. Sie bibberte bei diesen nach unten rauschenden Temperaturen. Ihr Schirm hielt dem Unwetter nur unzureichend stand.
Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung
Unweit von ihr stand ein Herr. Ohne Schirm, denn diese Art Regenschutz galt hierzulande immer noch als unmännlich und war ein Ausdruck von Verweichlichung und Dandyhaftigkeit. Der Schirm war zunächst im Barock ein Schutz vor der Sonne, eine Art „Schatten“, der verhinderte, dass die Haut der Hochwohlgeborenen einen bäuerlichen, luftgebräunten und damit einen nach Arbeit aussehenden Teint annahm. Aber die Zeiten änderten sich.
Im nebel- und regenreichen London tat ein Händler namens Jonas Hanway etwas für eine Art Gleichberechtigung des Mannes, was ihm aber nie gedankt wurde. Er machte den Schirm zu einem Schutz vor Regen für den britischen Gentlemen. Zunächst wurde er verlacht. Kinder rannten ihm, dem selbsternannten und erst später geehrten Schutzherrn der Findelkinder und Prostituierten, spottend hinterher.
Schließlich erfand ein anderer Engländer, Samuel Fox, dann 1852 das Stahlgestell, das den Schirm leichter, billiger und handhabbarer machte.
Ein Unglück kam selten allein
Doch zurück zu unserer geplagten Dresdner Dame. Endlich kam die Bahn und Amalia drängte auf das schützende Plateau und dann ins Innere. Vom Prasseln des Starkregens erlöst, schloss sie schnell den Schirm. Was dann passierte, beschrieb ein „auch Einer“ anonym genüsslich in den Dresdner Nachrichten. „Am Portikus bestieg am Freitag (bei Gewitter) eine Dame den Wagen – ohne Hut!“ Diese Dame, unsere Amalie Hirschfeld, zog nun alle Blicke in der Bahn auf sich. Zunächst fand sie sich geschmeichelt ob ihres wohl vermeintlichen eleganten Auftritts.
„Der (Hut) hatte sich nämlich mit seinen Teufelshörnern beim Schließen des Regenschirms in dessen Speichen eingehakt. Erst im Wagen bemerkte die Dame das Missgeschick, als sich der Schirm partout nicht schließen ließ.“
Die zunächst erstaunt schweigenden Fahrgäste in der Bahn fingen an, laut zu lachen. Das Biest Schadenfreude hatte das Regiment in der Bahn übernommen. Die Dame blickte auf den sich nicht schließen wollenden Schirm und hob den Rand hoch. Das sich hochschiebende Gestell gab die Ursache der Nichtschließbarkeit und des Gelächters den Blicken aller frei.
„Nun kam er (der Hut) zum Vorschein, und an ihm hingen rechts und links zwei Haartuffs und vorn ein paar Locken.“ Mit hochrotem Gesicht griff Amalie auf ihren Kopf und fand dort nur die völlig durchnässten und zerzausten, wenigen grauen Haare. Das Gelächter durchflutete den gesamten Straßenbahnwagen und begleitete sie bei ihrer Flucht auf den Perron1. Am Neustädter Bahnhof war die Dame wieder draußen. Und der Regen prasselte auf ihr nieder.
1 Perron – aus dem Französischen, in dem Zusammenhang sind die Austritte der Straßenbahnwagen gemeint. In der Schweiz werden noch heute Bahnsteige so bezeichnet.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.