Heinrich Sülzau zog seine Taschenuhr aus der Weste. Es war punkt Sechs abends. Das Tintenfass wurde geschlossen, der Federhalter auf die Ablage platziert, die unbearbeiteten Dokumente links drapiert und die bearbeiteten rechts, das Stempelkissen geschlossen und die Amtsstempel im Tresor verwahrt. Feierabend. Die Ärmelschoner wurden entfernt und das dunkel karierte Jackett angezogen.
Bei einem Blick in den Spiegel richtete er mit einem Kamm das Haar zwirbelte mit Spucke den Schnurrbart in Form und richtete den Schlips. Zum Schluss wanderte das Monokel in die Höhle des rechten Auges.
Mit einer Aktentasche verließ er sein Büro, seine Residenz als Sekretär des Amtsbereichs zur Vergabe von Ausschankkonzessionen in der ersten Etage des Kanzleihauses in der Großen Meißner Straße 15, dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt ihren Sitz hat. Dem Pförtner nickte er zu und trat hocherhobenen Hauptes aus dem Haus. Auf der Straße empfing ihn die frühabendliche Wärme des Sommers 1913, die von der Hitze des Tages noch nicht viel eingebüßt hatte.
Die Verwaltungsbehörde der Neustadt und Umgebung
Neben dem Rathaus gegenüber am Neustädter Markt, einer untergeordneten Behörde der autonomen Dresdner Stadtverwaltung, war die Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt, die unterste Verwaltungsbehörde in der Struktur des Königreiches Sachsen, untergebracht. Die Stadt Dresden war „exemt“, d.h. sie war eine selbständige Kommune.
Seit der Teilung der Amtshauptmannschaft Dresden im Jahre 1880 in zwei Behörden, umfasste der Verantwortungsgebiet neben den rechtselbischen Stadtteilen auch die linkselbischen Orte Blasewitz, Dobritz, Gruna, Striesen, Laubegast, Leuben, Seidnitz, Tolkewitz. Aber auch weiter entfernte Gemeinden gehörten dazu, wie Arnsdorf, Großerkmannsdorf, Radeberg, Kötschenbroda u.v.a. Insgesamt hatte die Amtshauptmannschaft im Zeitraum unserer obigen Geschichte eine Fläche von 343 Quadratkilometern mit etwa 125.000 Einwohnern.
Die Aufgaben der Amtshauptmannschaften (etwa den heutigen Kreisen entsprechend) betrafen all das, was die Städte und Gemeinden nicht selbst entscheiden konnten, bzw. die Aufgaben, die von übergeordnetem Interesse waren, zum Beispiel wasserpolizeiliche Aufgaben für die Elbe und anderer Flüsse und Bäche.
Diese Einrichtungen waren eine kommunale und Schulaufsichtsbehörde, waren verantwortlich als Straßenbaukommission außerhalb der Gemeinden, entschieden Streitigkeiten zwischen den Gemeinden, vergaben Konzessionen zum Betreiben einer Gast- und Schankwirtschaft und zum Handel mit Alkohol, erteilten Legitimationen für das Wandergewerbe, befürworteten Staatshilfen und vieles andere.
Nobel untergebracht
Heinrich Sülzau betrachtete dieses schöne spätbarocke Gebäude, das sogenannte Thielemannsche Haus, das eine Zierde in der Straße war. Und diese Zierde färbte auch auf ihn und seiner Stellung ab und machte ihn stolz. Die Große Meißner Straße war Teil des rechtselbischen Weges, der gegenüber der Altstadt die neuen Gebäude der Verwaltung des Königreiches und Wohnhäuser reicher Bürger beherbergte. Das sächsische Gesamtministerium, die Gebäude der Ministerien von Finanzen bis Verteidigung an der Augustusbrücke sowie die Bibliothek im Japanischen Palais.
Und die Amtshauptmannschaft Neustadt richtete sich in der Nr. 15 der Großen Meißner ein. Die Architekten Adam, Pöppelmann, George Bähr u.a. hinterließen ihre Spuren1. Verschiedene Ministerien quartierten sich hier ein, u.a. bis 1904 das Königliche Justizministerium. Der Amtshauptmann Freiherr Hans Gustav Maximilian von Hübel war mit seinem nicht allzu üppigen Stab nicht der einzige Bewohner des Hauses. Seit 1905 hatte auch das Königliche Meteorologische Institut hier seinen Sitz.
Die Nachbarschaft
Sülzau zog sein Jackett aus, legte es gut gefaltet über den linken Arm und ging strammen Schritts nebenan in den Pariser Garten. „Nach Ihnen kann man die Uhr stellen, Herr Sekretär“, begrüßte ihn lächelnd mit einem Diener der Inhaber des Etablissements, Franz Pauser. „Einen gespritzten Weißen wie immer?“ Den hatte der neben ihm stehende Kellner schon auf dem Tablett. „Wie immer!“, antwortete der Sekretär und begab sich mit vorgerecktem Kinn zum Stammtisch, an dem bereits notable Beamte aus dem Neustädter Rathaus und der Amtshauptmannschaft sowie Kaufleute und Unternehmer aus der Umgebung saßen. Das Wohlwollen der Restaurantbesitzer auf der Neustädter Seite war ihm auf Grund seines Aufgabengebietes sicher.
Eindruck machen – das war hier am Stammtisch und in den Nachbarrestaurationen ein Muss. Hier verkehrte die feine Gesellschaft des rechten Elbufers und manchmal auch die von Gegenüber. Die liberale Zeitung Dresdner Neuesten Nachrichten beschrieb diese Szenerie in ihrer Ausgabe vom 22. Juli 1913 folgendermaßen: „Das ‚Eindruckmachen‘ ist zu einem Hauptfaktor des täglichen Lebens geworden. Danach richtet man sein persönliches Auftreten, seine Kleidung, seine Wohnung usw. ein. Ein Kaufmann, der auf sich hält, kann nicht mit der Herrenmode auf Kriegsfuß leben oder seine Privatwohnung in ein billiges Stadtviertel verlegen.“
Und wer dazugehören möchte und weder ein dickes Bankkonto, noch einen Adelstitel vorweisen konnte, der flunkerte eben mit seiner angeblichen Hochgestelltheit als Reserveoffizier oder Legationsrat a.D. und stapelte sich dadurch etwas höher. Im Dresden der damaligen Zeit nannte man solche, sich selbst erhöhende Personen „Schieber“. In der DNN las man dazu: „Wenn er es versteht, das Monokel mit Grazie zu tragen, seinem glattrasierten Gesicht ein paar Lebemannsfalten einzuprägen und womöglich noch im eigenen oder richtiger auf den eigenen Namen gepumptem Auto die Rennbahn in Seidnitz zu besuchen, so kann er auf unbegrenztem Kredit rechnen. … Ist der Schieber unverheiratet, so tut er gut, mit der Lebewelt Fühlung zu halten und in den besseren Bars und Tanzlokalen zu verkehren.“
Aber diese Art Herrschaften waren am Stammtisch im Pariser Garten, mit herrlichem Blick auf die Schaufensterseite der Altstadt, nicht vertreten. Obwohl … bei den Äußerlichkeiten der meisten von ihnen hätte man durchaus den Eindruck haben können. Eindruck machen, vor allem in der Öffentlichkeit. Das war hier auch angesagt. Man war sich der Zugehörigkeit zu den oberen Gesellschaftsschichten in der Residenz wohl bewusst und zeigte es auch.
Und nach zwei Schöppchen gespitzten Weißen begab sich Heinrich Sülzau wohlgelaunt nach Hause auf die andere Elbseite. Noblesse oblige – Adel verpflichtet, auch wenn man nicht von Adel ist.
1 Wer der Architekt war, lässt sich nicht eindeutig belegen. Für Fritz Löffler ging der Entwurf auf den Kürfürstlich-sächsischen Generalbaudirektor Samuel Locke zurück. Stefan Hertzig votiert eher für Andreas Adam. Das Gebäude selbst wurde in den Bombennächten im Februar 1945 stark beschädigt. Als einziger Barockbau auf der Großen Meißner Straße ging es als Fassade in den 80er Jahren in den Neubau des Hotels Bellevue auf.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.