Nein, nicht Italien und die Länder rund ums Mittelmeer waren gemeint. Das konnten sich 1913 nur die Wenigsten leisten. Die sogenannte Sommerfrische der Sachsen führte die ärmeren Schichten entweder in die Oberlausitz, das Elbsandsteingebirge oder das Erzgebirge oder man blieb Zuhause. Diejenigen, die etwas mehr auf der hohen Kante hatten, reisten schon mal in Richtung Alpen, bevorzugt nach Österreich und besonders nach Oberbayern. Da seien die Berge so schön, die Musik so toll, das Essen so schmackhaft und die Luft so sauber. Dabei schlich sich bei aller Euphorie und verklärten Blicken ein „Aber“ ein.
Die Verulkung der Sachsen
Die Dresdner Nachrichten nahmen sich dieses Themas an und schrieben am 16. August 1913: „Zu Anfang der Saison in Oberbayern, München und in den Alpen beginnt mit mathematischer Pünktlichkeit eine mehr oder weniger offene Verulkung der sächsischen und norddeutschen Touristen und Ferienreisenden in der süddeutschen Presse. Führende Tageszeitungen, illustrierte Wochenschriften und kleine Lokalblättchen spotten über die ‚sächsische Lodeninvasion‘, spotten über den Dialekt, die Schäbigkeit im Trinkgeldwesen, spotten über ‚Jägerhemden‘1 und, man verzeihe die Deutlichkeit, über die ‚Barchent-Unterwäsche‘2 der sächsischen Damenwelt. Nicht genug, man spottet und höhnt darüber, dass die Sachsen und Norddeutschen ausgesucht die schäbigste Kleidung wählen, um in derselben München zu verschandeln.“ Was für eine Niedertracht! Da wird der Hund in der Pfanne verrückt.
Sachsen schlägt zurück
Und zwar mit Fakten! Geht’s in die Alpen, habe der Sachse stets einen wetterfesten Sportanzug an, so in den Dresdner Nachrichten zu lesen. Für den Münchner Aufenthalt habe jeder auch korrekte Kleidungsstücke bei sich. „Über den Dialekt zu spotten, ist Geschmackssache. Man kann in München von Leuten aus sehr guten Gesellschaftskreisen Dialektausdrücke hören, welche einer norddeutschen Dame peinlichste Verlegenheit bringen können. … Und nun gar der Blümchenkaffee. Im Münchner Café, … dass erkennen einsichtige Leute ohne weiteres an, kann man nirgends eine bessere Tasse Kaffee erhalten. … Der Preisunterschied fällt zu Ungunsten für München aus. Schon hier zeigt sich die teure Stadt, welche auf den Fremdenverkehr zugeschnitten ist.“
Und es geht noch weiter. „In München rechnet so ziemlich jeder Dienstmann auf ein Trinkgeld für eine Auskunft.“ Würde man das hier in Dresden verlangen? Mitnichten. Und sie wäre hier auch unbezahlbar. Die Bereitschaft zur Auskunft sei bei den Einheimischen der sächsischen Residenz weltberühmt, so die Zeitung. Frage einen Dresdner nach dem Weg nach da oder da, so erhältst du gleich eine verbale Stadtführung mit Wegbeschreibung, historischen und architektonischen Daten und gymnastischen Armverrenkungen.
Gehässig kann auch der Sachse
Ist denn der Münchner so weltmännischer? „Oh nein“, antwortete die Zeitung. „Man gehe an die oberbayrischen Seen, in die Sommerfrischen der Münchner ins Gebirge oder nach Tirol. Tatsächlich, man glaubt, der ‚Bauernball‘ aus dem Fasching ist in Schliersee, Herrsching, Berchtesgaden während der Ferien auferstanden. Schmutzige Kniehosen, abgetragene Joppen und verwitterte Lodenhüte mit Federn, aber ‚alles echt‘. Das ist die Tracht der Sommerfrische. Man trägt sie bei jeder Witterung nach der Devise ‚Einen Rock und einen Gott‘.“
Mahnung zur Besonnenheit
„Es fließt alljährlich ein ansehnlicher Goldstrom nach München, der der Münchner Fremdenindustrie und dem Wirtsgewerbe beträchtlichen Verdienst bringt. Schon die einfache Geschäftsklugheit sollte daher baldigen Wandel schaffen, vom Taktgefühl ganz abgesehen“, so das Resümee der Dresdner Nachrichten.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.
Anmerkungen des Autors
1 Safarihemden und Jägerhemden sind die vielseitigen Hemden, die gerne bei Freizeitaktivitäten getragen werden. ‚Mann‘ sieht zugleich sportlich und dennoch korrekt gekleidet aus. Beliebt sind die vielen Taschen, die das Unterbringen von persönlichen Dingen. Quelle: www.daniels-korff.de
2 Als Barchent wird ein Mischgewebe bezeichnet, bei welchem der Schussfaden aus Baumwolle und der Kettfaden aus Leinen besteht. In der Regel wird Barchent in einer dichten Köperbindung gewebt. Das Mischgewebe gibt es sowohl glatt als auch einseitig bzw. beidseitig angeraut. Das Anrauen erfolgt beispielsweise durch eine Kardendistel, durch welche der Stoff seine flaumartige Oberfläche erhält. Quelle: www.betten.de