Es war der erste Tag des Juli 1888. Färbermeister Richard Voigt stand vor seinem Haus, der Hauptstraße 21 in der Dresdner Neustadt und atmete die milde Luft dieses herrlichen Sommerabends ein. Entspannt betrachtet er die heimwärts eilenden Männer, Frauen und Kinder, die von Laden zu Laden Eilenden, die letzten Einkäufe tätigend. In seinem Zuhause erwartete ihn niemand. Heute Morgen brachte er seine Frau und seine beiden Kinder zum Böhmischen Bahnhof1, von wo aus sie zu ihrer Cousine nach Bad Schandau in die Sommerfrische fuhren. Und Richard fühlte sich frei, frei wie zu Junggesellenzeiten.
Unter Beobachtung
Aber nicht nur er beobachtete die Leute auf der Hauptstraße. Verfolgt wurde er von anderen Bewohnern des Hauses. Diese wussten, dass Elsa Voigt verreist war. Umso wissbegieriger war man, was das Verhalten des Herrn Färbereibesitzers in der Zeit der Abwesenheit der lieben Gattin betraf. Die Frau Zinngießermeister Winkler aus dem Parterre2 führte sich auf wie eine Concierge3. Dabei gehörte das Haus ihm und die Winklerin war nur Mieter. Auch die Neugier der Witwe Hett aus dem dritten Stock kannte keine Grenzen. Solange das Tageslicht es zuließ, und Anfang Juli war es sehr lange hell, machte es sich die Witwe auf einem Kissen am Fenster bequem. Ihr entging nichts.
Und in seine Wohnung rauschte täglich die Furie Müllerin, die Aufwartefrau, herein. Auch der entging nichts. Sie war das Auge und das Ohr seiner lieben Gattin.
Die Freuden des Strohwitwers
Diese wurden genüsslich in der Dresdner Frauenzeitung am 18. August 1888 der geneigten Leserinnenschaft ausgebreitet, mit dem damals noch nicht so bezeichneten feministischen Ziel, wonach ohne die ordnende Hand der Ehefrau und deren energisches Strippenziehen im Hintergrund die Männerwelt in den Abgrund und jede Gesellschaft ins Unglück stürzen würde. Folgen wir unserem Färbereibesitzer durch die Zeit seines Strohwitwerdaseins.
Euphorisch notierte Richard Voigt in sein Tagebuch: „Köstlich heute amüsiert. Ordentlich einmal aufgeatmet. – Erst Franken Bräu, dann Zacherl Bräu, dann Kneist und schließlich Café König. – Prächtiger Anfang meiner Strohwitwerschaft.“
Auch der zweite Tag ließ Voigtens Herz vor Freude springen. „Bis drei Uhr nachts Skat gespielt – wenn das meine Frau wüsste. Aber kolossal gewonnen.“ Der nächste Tag hinterließ auch Freude, fast jedenfalls. „Erst Konzert von Ehrlich genossen, dann wieder Skat gedroschen – bis halb vier. Vorher kleines Unglück gehabt – Schwiegermutter beinahe begegnet, aber noch rechtzeitig großen Bogen um sie gemacht.“
Nun kratzte das Gewissen
Die Tage vier bis sechs waren nicht im Tagebuch verzeichnet. Erst der Tag sieben tauchte wieder auf. Und da meldeten sich bei ihm erste leise Zweifel über sein Tun und Lassen, so stand es zumindest in der Zeitung. „Bis jetzt immer gut amüsiert. Wünsche, dass es meiner Frau und den Kindern in der Sommerfrische ebenso gut ergehen möge. Wenn nur früh das Verschlafen nicht wäre. Schon zweimal zu spät in die Färberei gekommen.“
Unter dem Tag zwölf war zu lesen: „Immer noch schneidiges Leben! Aber ich muss gestehen, das Kaffeetrinken im Café ist ziemlich unbequem. Es hat doch was für sich, wenn man seine Tasse Mokka im Negligé schlürfen kann.“
Ihm wurde zunehmend bewusst, dass das freiheitliche Junggesellen-Leben seine Ecken und Kanten hatte und das der vermeintliche Käfig der Ehe beträchtliche Annehmlichkeiten bot. Und dass dem guten bürgerlichen Ehegatten da draußen das Laster bedrohte. Das war das Ziel dieses Artikels in der Dresdner Frauenzeitung. Es ging also nicht um die Emanzipation der Frau.
Tag achtzehn: „Gestern Abend beinahe in kleine Versuchung geraten, aber alles glücklich vorübergegangen. Nachdem zwei meiner Freunde auf Reisen gegangen, wünschte ich wahrhaftig, dass wenigstens das Theater wieder seine Pforte öffnen möchte.“
Der Gatte muss am Boden liegen
Der zweiundzwanzigste Tag seine Strohwitwerdaseins brachte ihm eine Genugtuung. „Donner und Doria! Endlich die alte Hexe von Aufwartung zum Teufel gejagt. War nicht mehr auszuhalten mit dem alten Weibe. Weder Stiefel noch Kleider salonmäßig geputzt.“
War vielleicht etwas voreilig, denn am 25. Tag bereute er diesen Schritt. „Wenn ich mir so unsere Wirtschaft betrachte – es sieht heidenmäßig aus. Meine gute Frau wird sich freuen. Na, es dauert ja nicht mehr lange.“
Es lebe die bürgerliche Ehe
Nun setzte das Frauenblatt ab dem Tag 27 zum großen Finale an. „Ach, wenn nur erst die vier Wochen glücklich überstanden wären. Mit Sehnsucht erwarte ich mein holdes Weibchen, dass mir früh mit freundlichem ‚Guten Morgen‘, den Kaffee präsentiert, mittags pünktlich mit dem Essen aufwartet, während mein Junge schon mit Hausschuhen und Schlafrock neben der Tür stand, sobald ich nur hereintrat. Es hat doch das Familienleben seine eigenen Reize. Das Bummeln bekommt man recht satt.“
Und dann kam der Tag, der Tag Nr. 30, der 30. Juli 1888, als Frau Färbereibesitzer Elsa Voigt den häuslichen Boden betrat und ihr Gatte (laut Dresdner Frauenzeitung) in innerlichen Jubel ausbrach. „Ich habe meine ganze liebe Gesellschaft wieder, brauche weder mich im Restaurant über stinkigen Braten zu ärgern, noch selbst die Stiefel zu putzen und das Bette zu machen. Geht mir doch mit der Strohwitwerschaft.“
Ob die Witwe Hett aus dem dritten Stock der holden Gattin von den Eskapaden des werten Gatten berichtete, ist nicht bekannt. Zumindest die Nachbarschaft wird einiges zu hören bekommen haben. Und wir können davon ausgehen, dass Elsa Voigt ihren Mann genau kannte und wusste, wie sie ihn nehmen musste.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.
Anmerkung des Autors
1 Böhmischer Bahnhof: Das war gewissermaßen der Vorläufer des Hauptbahnhofs. Mehr im Dresdner Stadtwiki
2 Parterre: Erdgeschoss
3 Concierge: Hausmeisterin, Portiersfrau