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Der Mittwoch der Lüste

Ignatz von Vieth, seines Zeichens Professor der Philosophie an der Königlich Sächsischen Technischen Hochschule Dresden, saß im Morgenmantel am Schreibtisch vor dem offenen Fenster in seinem Arbeitszimmer und las in seinem Lieblingsblatt, den Dresdner Nachrichten, während seine Haushälterin Emma das Frühstücksgeschirr in der Küche abwusch. Diesen Morgen im Jahre 1913 verschönte eine milde Septembersonne, die die letzten Nebelschwaden auflöste. Die Bäume im Preußischen Viertel1 hatten meist noch das Grün des langsam dahinsiechenden Sommers, einige begannen sich schon herbstlich zu schmücken. Altweibersommer.

Dresdner Nachrichten von 1913
Dresdner Nachrichten von 1913

Das Spiel beginnt

Ein Geräusch, dass hier nicht hingehörte, störte diese Idylle. Klopf. Dann ein Klopfen mit Echo. Dazu leises Stöhnen. Der Professor schaute aus dem Fenster seiner Parterrewohnung in der Arndtstraße Nummer 9. Dort malträtierten die beiden pensionierten Schwestern Emma und Johanne Kirsten aus dem zweiten Stock einen Teppich. Klopf, klopf, klopf, klopf, gut harmonisch abgestimmt. Dazu erhöhte sich die Schlagfrequenz des Stöhnens, gepaart mit einem merkwürdigen Grunzen von der älteren Johanne.

Villa Arndtstraße - Postkarten von 1907
Villa Arndtstraße – Postkarten von 1907

Als wäre das noch nicht alles, was an diesem Morgen die Idylle störte. Im Haus gegenüber gab Frau Regierungsrat Elsa Krautz gemeinsam mit ihrer Haushälterin der Geräuschkulisse der beiden Schwestern ihren Rhythmus dazu. Klopf, klopf. Stöhnen. Klopf, klopf. Stöhnen. In der Küche wippte Emma beim Abwasch mit ihrem Hintern. Der Professor betrachtete mit Vergnügen diesen sich rhythmisch bewegenden verlängerten Rücken.

Beschwerden

Das Klopfen, die Ahhs und das grunzenhafte Gestöhne nahmen weiter Fahrt auf. Ignatz von Vieth hatte sich ein halbes Jahr zuvor, am 28. April, bei seinen Dresdner Nachrichten über diesen Lärm der Haushaltungen beschwert. Er als geistig arbeitender Mensch könne bei solch sündhaften Geräuschen nicht denken, geschweige denn eine Vorlesung konzipieren. Und in den Villenvierteln, wo die wohlhabenderen Leute wohnten, sei es naturgemäß am schlimmsten. „Sobald der Tag beginnt“, schrieb er damals, „lassen die Herrschaften die Teppiche und alles andere Klopfbare herausschaffen, und nun dreschen (anders kann man es nicht nennen) womöglich zwei Personen im Takte darauf los, mit einem Kraftaufwand, der wirklich einer besseren Sache Wert wäre.“

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Und warum dieser Aufwand? „Es muss eben geklopft sein“, so war in besagter Zeitung zu lesen. „So macht es die Frau Nachbarin, da kann man doch nicht zurückstehen. Man würde ja sonst für unsauber und liederlich gelten. Also gilt´s den Ausklopfer noch etwas öfter und kräftiger zu handhaben, als es die Nachbarin tut.“

Das Spiel breitet sich aus

Inzwischen hatte sich die kleine Musikgruppe zu einem Kammerorchester erweitert. Aus der Arndtstraße Nummer 10 schlug nun die Frau Major Gerda Martini gemeinsam mit der Wäscherin Martha Ulbrich aus dem zweiten Stock auf die Flurläufer ihrer Wohnung ein. Die kräftigen Arme von Martha ließen kein Staubkörnchen an dem Läufer haften, begleitet von einem röhrenden Geheule aus ihrem etwas zahnbefreitem Mund. Die Majorin lieferte dazu einen spitzen hochtonigen Auswurf.

Auch die Nummer 11 steuerte ihren musikalischen Beitrag bei. Frau Generalmajor Dorothea von Tettenborn bearbeitete gemeinsam mit ihrer jungen Haushälterin Luise die Bodenbeläge ihrer Eingangsdiele mit brachialer Gewalt, wobei die dünnen Arme der Luise nur wenig ausrichten konnten. Aber sie wurden dabei von choralen Gesänge aus weiteren Höfen mit Alt, Mezzosopran und Sopran sehr gut unterstützt. Aus dem Kammerorchester wurde eine Bigband.

Professor von Vieth nahm sich etwas Kerzenwachs, stopfte es in seine Ohren und dämpfte damit die Geräuschkulisse und seine innere Aufgewühltheit. Seine Zeitungsbeschwerde hatte nichts gebracht, außer Schadensfreude und mitleidige Blicke im Viertel. Er schlug auch die Gründung eines Vereines zur Beseitigung von üblem Hauslärm vor. Über die Antwort des Redakteurs war er immer noch wütend. „Schön, gründen wir einen solchen Antiklopfverein mit Statuten, Monatssitzungen, Vereinszeichen, Fahnenweihe, Demonstrationsumzügen, Katzenmusiken usw., dann müsste es ja mit dem Popanz zugehen, wenn die Polizei nicht innerhalb des nächsten Vierteljahrhunderts einen Ukas2 gegen das sündhafte Teppichklopfen erließe.“

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Das Finale

Inzwischen erreichte das Klopforchester mit beigeordnetem Chor den Höhepunkt. Klopf, klopf, klopf, klopf. Ahh, ohrrr, haah. Ekstatisch schrilles Schreien wechselte sich ab mit Grunzen und Quieken und einem Gurgeln aus tiefsten Tiefen. Dazu kamen rhythmische Bewegungen aus den Armen und kreisenden Becken.

Die Vögel hatten längst das Weite gesucht. Selbst die Sonne versteckte sich schamhaft hinter Wolken. Die letzten Staubpartikelchen verließen fluchtartig die jeweiligen Teppiche. Plötzlich Ruhe. Eine ungewohnte Stille breitete sich aus.

Im Hof vor dem Fenster von Professors Arbeitszimmer kamen die beiden Schwestern langsam wieder zu Atem. Mit roten Wangen und leuchtenden Augen lehnten sie sich an das Teppichstangengerüst. Ein wohliges Glücksgefühl bemächtigte sich ihrer. Mit verklärtem Blick fasste sich Johanne, wie die Heilige Theresa in der Skulptur von Bernini3, ergriffen an die Brust. Den anderen Mitgliedern der vierteleigenen Hausdamen-Bigband erging es wohl ähnlich.

Die Vögel kehrten zwitschernd in ihre angestammten Bäume zurück und die Sonne lugte vorsichtig hinter einer Wolke hervor. Professor von Vieth, noch leicht erregt, entfernte das Wachs aus seinen Ohren und widmete sich nun seinem Vorlesungstext über Hegels untrennbare Verbindung von Freiheit und Vernunft.


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.

Anmerkung des Autors

1 Das Preußische Viertel ist eine Villengegend im Stadtteil Radeberger Vorstadt. Begrenzt wird es im Westen durch die Äußere Neustadt mit der Priesnitz und im Osten durch die Waldschlößchenstraße. Durchquert wird das Viertel von der Bautzner Straße.
2 Der Begriff Ukas kommt aus dem Russischen und bedeutet ein amtlicher Erlass.
3 Darstellung der mystischen Begegnung der Theresa von Avila mit einem Engel. „Die Verzückung der Hl. Theresa“ von Bernini befindet sich in der Kirche Santa Santa Maria della Vittoria in Rom. Sie ist die Schutzpatronin Spaniens, Schutzpatronin der Schriftsteller und Schauspieler. Wurde 1970 vom Vatikan als erste Frau zur Kirchenlehrerin ernannt.

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