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Wider die behördliche Willkür

„Mir reichts“, donnerte Paul Hrubesch in den Gastraum des Neustädter Kasinos1 auf der Königstraße und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Humpen. „Mir schon lange“, pflichtete ihm Louis Peter, der Inhaber des selbigen bei. Die sich hier erregenden Gasthaus-, Saal- und Hotelbesitzer aus der Dresdner Neustadt hatten sich Ende Mai 1913 in diesem renommierten Haus zusammengefunden, um einen Schlachtplan gegen den Verordnungswahn des Königliches Staatsministerium des Innern aufzustellen.

Neustädter Kasino
Neustädter Kasino

Eine jüngste Verordnung zur Umsetzung der Landestanzordnung von 1910 brachte das Fass zum Überlaufen. Nach deren Paragraph 9 sei der Zutritt zum öffentlichen Tanz Personen männlichen Geschlechts vor vollendetem 17. Lebensjahr, Personen weiblichen Geschlechts vor vollendetem 16. Lebensjahr und Fortbildungsschülern, auch wenn sie sich in Begleitung ihrer Eltern oder sonstiger erwachsener Personen befinden, verboten.

Jugendverbote

„Das an sich ist nicht das Problem“, warf Anna Pötzsch, die Inhaberin der Deutschen Reichskrone2 von der Ecke Königsbrücker/Bischofsweg ein. „Doch, das ist ein Problem, liebe Anna“, unterbrach sie Paul Hrubesch. „Ich musste erst am vergangenen Sonntag bei einer Kontrolle 50 Mark an die Wohlfahrtspolizei blechen, weil die einen jungen Mann bei mir herausgefischt hatten, der noch keine 17 war, aber in Begleitung seiner Eltern da war. Das ist noch nicht alles. Auch den Beziehern von öffentlicher Armenunterstützung sollte ich den Zutritt zu unseren Tanzveranstaltungen verwehren, meinten die.“

Richard Göhler vom Hotel zum Artesischen Brunnen3 auf der Antonstraße dröhnte mit seiner tiefen Stimme, dass wir auch „Leuten, die mit der Steuer im Rückstand sind und auch die, die unter Polizeiaufsicht stehen, unseren Häusern den Zutritt zu verweigern haben. Woran sollste die denn erkennen?“. Franz Anton Schuster vom Gasthof Schwarz brauchte einen Schnaps zur Beruhigung seines Kreislaufes.

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Louis Peter lachte in seinen Humpen. „Jetzt sind wir auch noch die stillen Vollzugsbeamten der Steuer- und Polizeibehörde. Und das ohne einen Groschen Zuwendung für unsere Dienste.“ Die dralle Anna klatschte in ihre Hände und nippte an ihr Weinglas. „Wie soll man denn feststellen, ob ein Mädchen schon über 16 Jahre alt ist. Und die Buben? Die schauen mit 17 oft noch aus, als seien sie gerade erst konfirmiert worden.“

„Richtig“, warf der Hrubesch vom Hotel Royal4 dazwischen. Soll ich Familien, die Sonntag zum Kaffee kommen und ihre Kinder mitbringen, vor die Tür setzen? Welcher dieser Sesselfurzer hat sich diesen Quatsch einfallen lassen?“

Eine Eingabe ans Ministerium

Franz Anton Schuster klärte die Runde auf. „Das ist doch deren Arbeit. Woher sollen die wissen, was bei unsereins im Lokal los ist? Die müssen doch ihre Daseinsberechtigung nachweisen und das von früh bis spät. Nach getanem Schreibkram im stickigen Büro gehen sie brav nach Hause, wo die holde Gattin mit dem Essen wartet. Wir sollten eine Eingabe an den Minister des Innern machen und das über unseren Verband der Saal- und Gastwirte.“ Bravorufe hallten durch das Restaurant und Inhaber Peter ließ eine neue Runde kommen. Die Dresdner Neuesten Nachrichten vom 25. Mai 1913 berichteten ausführlich von dieser revolutionären Zusammenkunft der Neustädter Wirte.

Dresdner Neueste Nachrichten von 1913
Dresdner Neueste Nachrichten von 1913

Wann ist ein Kostümfest ein solches

„Da können wir auch gleich diesen Schildbürgerstreich mit erwähnen, den mit den Kappen meine ich.“ Schuster erntete ungläubige Blicke. „Ich meine den Bescheid vom 22. Januar, laut welchem Festlichkeiten durch das Aufsetzen einer Kopfbedeckung als Kostümfeste zu bezeichnen seien.“ Anna gackerte los. „Jetzt weiß ich auch, warum der Leichenschmaus im Anschluss an eine Beerdigung oftmals sehr lustig wird.“ Andere am Tisch fielen in das Gelächter ein. Auch Schuster schmunzelte. „Das ist wirklich wahr. Das Innenministerium verwies darauf, dass Kostümfeste nur in der Zeit zwischen Hohen Neujahr und Fastnachtsdienstag erlaubt seien.“

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Wieder brandete Lachen auf. Die weinselige Anna prustete los. „Wenn einer der Karnevalisten am Aschermittwoch zu seinem Herrn gerufen wird, muss dann die Trauergemeinde bis zum 6. Januar warten? Und was passiert bis dahin mit der Leiche? Darüber gibt’s bestimmt keine Verordnung. Das stinkt wahrlich zum Himmel.“

Doch Franz Anton war mit seinem Bericht noch nicht fertig. „Wir haben uns vom Verband ein sachverständiges Gutachten geben lassen, nämlich von der Direktion der Europäischen Modeakademie, die hier in Dresden ihren Sitz hat. Die sagten ganz deutlich, dass im Geschäftsverkehr die Kopfbedeckung überhaupt nicht zum Kostüm gerechnet wird.“

Und zur Unterstreichung ihres hartnäckigen Willens, der Obrigkeit mal so richtig eins mit drakonischer Stärke auszuwischen, beauftragte die Runde Franz Anton vom Gasthof Schwarz mit der Verfassung einer kampfeslustigen Resolution und den herbeigeeilten Kellner mit einer neuen Runde für die durstigen Kehlen. Damit wurde die Revolution gegen die Staatsmacht ein paar Straßen weiter für heute beendet.

Anmerkungen der Redaktion

1 Neustädter Kasino: die Schankwirtschaft mit Ballsaal in der Königstraße 15 ist heute das Kulturrathaus.
2 Reichskrone: In dem Ballhaus gab es einst spektakuläre Boxkämpfe und auch Ernst Thälmann soll mal eine Rede geschwungen haben. In den frühen 1990ern wurde der Pracht- durch einen Zweckbau ersetzt. Spannende Bilder unter: www.verschwundene-bauwerke.de
3 Den Artesischen Brunnen gibt es immer noch, jedoch kein Hotel mehr gleichen Namens. An Stelle des Hauses in der Antonstraße 4 gibt es seit einiger Zeit ein Einkaufszentrum. Ein historisches Bild unter: www.verschwundene-bauwerke.de
4 Das Hotel Royal, später Hotel Reichshof, in der Antonstraße 15, steht heute nicht mehr.


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.