Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte.
„Wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich gestern Abend nicht in dieses Sündenbabel gegangen und hätte meine Enkelin nicht diesem schamlosen Gesindel ausgesetzt.“ Mit vor Entrüstung zittrigen Händen bestrich Frau Anna Bator ihre Schnitte mit etwas Butter. Ihre Tochter, die 45-jährige unverheiratete Zsofia, nickte dazu und versah ihre Nichte Lodwiga mit einem finsteren Blick. „Du hast dich an diese Taugenichtse herangeworfen, wie eine Hure. Kein Wunder bei der Mutter und dem Vater. Schäme dich.“
In diesen Tagen, Anfang Dezember 1881, war das Hotel „Stadt Bautzen“ auf dem Niedergraben1 Nummer 3 in der Neustadt nicht voll belegt. Die drei Damen befanden sich auf Brautschau für Lodwiga. Dafür unternahmen sie eine mehrwöchige Studienreise durch die höheren Gesellschaften von Dresden, Karlsbad, Prag, Wien und Budapest. Von nichts komme nichts.
Die Jüngste von den Dreien, die bei der Verteilung der Schönheit wohl mehrmals hier gerufen hatte, während die anderen beiden Damen den Aufruf glatt überhört haben müssen, war diesem Ansinnen nicht abgeneigt. So konnte sie der Fuchtel von Oma und Tante in absehbarer Zeit entkommen. Der selbst gestellte Auftrag der beiden Älteren: Es sollte eine gut situierte Partie für die Enkelin gefunden werden. Möglichst ein höherer Beamter bei Hofe oder ein reicher Bankier. Auch ein Privatier2 wäre nicht zu verachten. Liebe sei zweitrangig.
Anna Bator, oder besser gesagt deren Mutter, entstammte einem etwas verarmten Seitenzweig der ungarischen Hochadelsfamilie derer von Dobray. Das aktuelle Oberhaupt der Großfamilie war Andras Dobray, quasi der Großcousin. Er regierte als Stadtkapitän die aufstrebende ostungarische Stadt Karcag. Aber für seine bucklige und arme Verwandtschaft hatte er nichts übrig. Kümmert euch selbst, dann hilft euch Gott, war seine Devise. Es half nichts. Ein paar Jahre später wurde er von einem Anarchisten erschossen.
Auf in Dresdens größtes Ballhaus
Und so machte sich Anna Bator mit ihrer altjüngferlichen, verbiesterten Tochter und der quirligen Enkelin auf die Reise durch die Tanzlokale der bedeutenden Metropolen. Eine gute Partie für Lodwiga finden, bedeutete auch einen gesicherten Lebensunterhalt für Großmutter und Tante. Und so nahmen sie den Tipp der forschen Wirtin vom Hotel „Stadt Bautzen“ an, sich im größten Ballhaus der Stadt, Damm’s Etablissement3 an der Ecke Königsbrücker Straße und Bischofsweg diesbezüglich umzusehen. Mit straffer Hand und hoher Autorität leitete auch dort eine Frau die Geschäfte. Ihr Gatte, der ehrenwerte Carl Adolf Damm verstarb 1874, zwei Monate vor der Fertigstellung des Ballhauses, und seine Witwe, die Wilhelmine Henriette musste die Geschäfte übernehmen.
Unverhofft kommt oft
Das war für die Älteste des Damentrios nicht das Problem, sondern die Zusammensetzung des Publikums in diesem Hause. Schnell war klar, dass es hier nicht so vornehm zuging, wie in den Ballhäusern der Altstadt. Hier trafen die schüchternen Mädchen der einfachen Familien der Neustadt auf die forschen und stramm auftretenden und einem Schäferstündchen nicht abgeneigten Soldaten aus den Kasernen der Albertstadt.
Oma Anna war ob der Zügellosigkeit der Ohnmacht nahe und Tante Zsofia wurde mal rot und dann wieder blass. Nur Enkelin Lodwiga fühlte sich pudelwohl. Sie konnte sich vor Tanzangeboten nicht retten. Ob Polka oder Walzer – hier kam ihr ungarisches Temperament, welches sie wohl von ihrem verschwundenen Vater geerbt haben musste, durch. Der scharfe Paprika im Blut bracht Selbiges in Wallungen. Anders als die vertrockneten Stimmungen von Oma und Tante. Diese setzten dem unzüchtigen Verhalten der Enkelin jedoch ein baldiges Ende.
Der rettende Anker
Lodwiga musste am Frühstückstisch die Vorhaltungen und Predigten von Großmutter und Tante ertragen und setzte eine schuldbewusste Miene auf. Da entdeckte sie die Zeitung Dresdner Nachrichten und darin den Briefkasten. Erstaunt las sie, wie offen Mädchen einen Mann und junge, gut betuchte Männer eine Ehefrau suchten. Lodwiga fasste einen Entschluss, denn das Zusammensein mit ihren Verwandten für noch weitere Wochen konnte sie nicht mehr ertragen. Und so wandte sie sich Hilfe erflehend an die Redaktion des Blattes.
„Lieber Mann, habe gehört von dem Blatte Deinem, dass bekommen man kann Ehegatten. Nun haben will ich einen solchen. Ich weit her aus Ungarn mit Großmaman und Tante kommen bin, habe nicht gut. Großmama und Tante böse, böse, behandeln mich schlecht, soll gehen wieder nach Ungarn mit, ich aber will bleiben in schönen Dresden, kann mich nicht halten ein Mann hier? Geld habe viel ich bekommen von meiner Maman, wie sie gestorben, bin jung, hübsch, werde werden bald 20 Jahr, kann auch ganz gut deutsche Sprache. Bitte, setze Brief in Briefkasten, vielleicht wird holen mich dann ein Mann weg von Großmaman und böser Tante, willst Du, guter Mann? Aber bald, soll gehen schon fort in andere Woche.“ 4
Und was antwortete der Herr Redakteur in seiner etwas zynischen Art? „Bessama! Großmama deinige und böse Tante soll Popanz holen, damit Mann gutes kann kommen, dich zu holen!“
Ob der Wunsch das Christkind erreichen konnte und es Erbarmen mit der armen Lodwiga hatte, war leider nicht erfahrbar. Es wäre dann doch ein etwas zu kitschiges, weihnachtliches Happyend geworden.
Anmerkungen des Autors
1 Der Niedergraben war eine Straße jenseits der Hauptstraße in der Inneren Neustadt.
2 Ein Privatier oder Privatus ist ein Mann ohne Erwerbstätigkeit, der soviel Vermögen besitzt, dass er davon Leben und seine Steuern und Abgaben bezahlen kann. In der Bundesrepublik gab es lt. Statistischem Bundesamt im Jahr 2018 rund 627.000 Privatiers.
3 Aus Damm´s Etablissement wurde später die „Deutsche Reichskrone“ und nach 1945 das „Aktiv“. Nach der Wende wurde es Anfang der 1990er Jahre abgerissen.
4 Dresdner Nachrichten vom 12. Dezember 1881
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.
Kann mir bitte jemand erklären, was „Bessama“ bedeutet? Ist das sowas Unübersetzbares wie „Ei verbibbsch!“ oder so?
@Thomas: Als so etwas würde ich es deuten. Vor allem wegen des Ausrufungszeichens unmittelbar danach.