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Man hat doch nur das bisschen Freude

Marie Schumann, die verwitwete Arbeiterin im Dachgeschoss in der Hechtstraße 15 mit ihren drei Kindern wohnend, um nicht zu sagen hausend, ging es nicht gut. Seit drei Tagen lag sie mit Fieber im Bett. Der Unterleib schmerzte. Der Große, der 14-jährige Franz, stand bei ihr und wusste sich nicht mehr zu helfen.

Anna wusch die Teller des kläglichen Frühstücks ab und der kleine Rudolf spielte mit einem Stück Holz, dass mal so etwas wie ein Pferd gewesen war. Die Mutter stöhnte auf. Franz tupfte ihr den Schweiß von der Stirn und erneuerte die Wadenwickel. Aber nichts half. Das Fieber blieb hoch. „Franzi“, rief die Mutter und suchte die Hand ihres Sohnes. „Geh zum Armenarzt, zum Doktor Hartmann in die Oppellstraße 40 in den zweiten Stock1. Frag ihn, ob er mal herkommen kann.“

Oppelstraße 40 vor rund 100 Jahren
Oppelstraße 40 vor rund 100 Jahren

Der Armenarzt im Viertel

Franz sauste die Treppe hinunter, raus auf die Hechtstraße, bog schräg gegenüber rechts in die Erlenstraße und dann linksrum die Oppellstraße hoch. Die Nummer 40, kurz vor dem Königsbrücker Platz mit der erhabenen St. Pauli-Kirche an der linken Seite, war etwas eingerückt, die Haustür offen. Im zweiten Stock klingelte er stürmisch und eine missgelaunte Krankenschwester raunzte ihn an.

Noch außer Atem erzählte er das Problem seiner Mutter. Dr. Hartmann kam ob des Lärms aus seinem Sprechzimmer, beruhigte Franz und fragte ihn nach den Symptomen. „Hat deine Mutter auch gerötete Augen mit gelbem Eiter am Lid?“ Franz bejahte. Arzt und Schwester schauten sich wissend an. „Geh wieder heim. Ich habe noch einen Patienten und dann komme ich zu euch.“

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Die Lustseuche

Hier im Hechtviertel der Dresdner Neustadt ist diese Krankheit keine Seltenheit. Der Hautarzt Albert Neisser entdeckte 1879 den Erreger, den Gonokokken-Bazillus. Im Volksmund Tripper2 genannt, verbreitete sich der Erreger durch sexuelle Handlungen in Verbindung mit Unwissenheit und Unsauberkeit.

Hechtstraße mit Straßenbahn vor rund 100 Jahren
Hechtstraße mit Straßenbahn vor rund 100 Jahren

Besonders in der armen Arbeiterschaft (aber nicht nur dort) grassierte die Krankheit 1913 durch die versteckte häusliche Prostitution, einer Möglichkeit, den spärlichen Verdienst ein wenig aufzustocken. Das tat man auch dadurch, dass die Betten an alleinstehende junge Männer als Schlafstätte untervermietet wurden.3 Und dabei wurde oftmals beides miteinander verbunden. Dass nicht nur bei alleinstehenden Frauen. Die Folgen sah man an Marie Schumann.

Mangelnde Hygiene

Als Doktor Hartmann, der von der Stadtverwaltung bestellte Armenarzt, die kleine Wohnung unterm Dach betrat, hielt er sich die Nase zu. Es stank nach Eiter, Schweiß, abgestandenem und vergammeltem Essen und nach unsauberer Wäsche. Der Fußboden hatte seit längerem keinen Besen, geschweige denn einen Scheuerhader gesehen, die Wände schwitzten. „Kinder sofort die Fenster auf. Ihr schafft hier einen Festschmaus für allerlei Viehzeug und Krankheiten.“

Anna erwiderte erschrocken, dass es dann hier sehr kalt würde und Kohlen knapp seien. Es sei noch niemand erstunken, aber schon viele erfroren, meinte Franz spöttisch. Der Doktor schmunzelte. Es ist immer wieder das gleiche, was er in den meisten Wohnungen hier im Viertel sah.

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In den Dresdner Neuesten Nachrichten stand dazu: „Je enger und beschränkter die Wohnräume sind, umso größer muss die Reinlichkeit sein.“4 Der Mangel an Hygiene förderte alle möglichen Krankheiten, wie die Schwindsucht. Wasseranschluss auf der halben Treppe. Dort war auch das Klo, dass mit den anderen Mietern der Etage geteilt werden musste und dessen Sauberkeit sehr zu wünschen ließ.5

Arbeiterfamilie um 1913
Arbeiterfamilie um 1913

Nährboden sind Armut und wechselnde Geschlechtspartner

Der Arzt schickte die Kinder ins andere Zimmer und betrachtete Marie Schumann genauer, ihre Augen und ihre Scheide. „Ein klassischer Tripper, wie er im Buche steht. Wann hatten Sie denn den besagten Verursacher zu Besuch? Ich schätze mal vor drei, vier Tagen?“ Wäre Maries Gesicht nicht vom Fieber glühend, wäre sie vor Scham errötet und unter die Bettdecke gekrochen. Sie nickte nur. „Und genau hingeschaut haben Sie auch nicht? Ich meine auf seine Geschlechtsteile.“ Verschämtes Kopfschütteln bei Marie.

Die Schumann hauste mit ihren drei Kindern in den zwei Zimmern unterm Dach. Ihr Mann verstarb vor zwei Jahren an einem Unfall mit einem Automobil vorn am Bischofsweg. Das wenige Geld, dass sie als Einpackerin in der Akkumulatorenfabrik von Alfred Luscher auf der Großenhainer 133 verdiente, reichte kaum, sich und ihre drei Kinder durchzubringen. Und der Große beendet Ostern die Volksschule.

Anzeige der Akkumulatorenfabrik von der Großenhainer
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Eine Lehre für ihn kann sie sich nicht leisten. Und da kamen ihr die sporadischen Schlafgäste, meist junge Männer vom Lande, die in den Fabriken im Dresdner Norden arbeiteten, gerade recht. Und der eine oder andere Bursche hatte auch andere Gelüste, die ebenfalls etwas in die Haushaltskasse einbrachten. Dann leistete sie sich an manchen Abend auch mal das eine oder andere Bierchen unten in Pattere in der Kneipe „Zur Schmiede“. Das seien die einzigen Freuden ihres ansonsten verkorksten Lebens. Aber an die Folgen hatte sie nicht gedacht.

Ein erstes Heilmittel

Doktor Hartmann gab ihr ein besonderes Präparat gegen diese verbreitete Lustseuche. Es wurde 1897 von dem Chemiker Arthur Eisengrün in der Chemiefabrik Beyer in Leverkusen entwickelt. „So, Schumannsche, das ist Protargol6, ein Silberpräparat. Das Pulver verdünnen Sie mit sauberem Wasser, so wie es hier auf dem Zettel steht und damit spülen Sie dreimal täglich ihre Scheide. Zahlt die Armenkasse. Wadenwickel zur Fiebersenkung können Sie weiter machen. Und die Augen mit Kamille ausspülen.

Hier gebe ich Ihnen ein kleines Päckchen mit Kamillenblüten und etwas Watte. Aber achten Sie auf strikte Sauberkeit. Regelmäßig den ganzen Körper waschen. Das Wasser gleich wegschütten, die Handtücher nur durch Sie benutzen und täglich wechseln und auskochen. Nicht den Kindern geben. Und immer gut lüften und hier mal saubermachen. Ich komme übermorgen wieder. Was macht denn Ihr Großer nach Ostern?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Marie kleinlaut. „Dabei kann er gut rechnen und handwerkeln. Ist auch schon erwachsener als viele seiner Altersgenossen. Aber eine Lehrstelle kann ich mir nicht leisten. Vielleicht kann ich ihn beim Luscher mit unterbringen. Danke noch, Doktor.“

Anmerkungen des Autors

1 heute Rudolf-Leonhard-Straße
2 Die zunehmende Resistenz gegen Antibiotika trägt aktuell zur Verbreitung des Trippers bei. Die WHO warnt seit Jahren davor und fordert eine strikte Aufklärung.
3 Auf Grund des großen Mangels an bezahlbaren Kleinwohnungen, Wohnpensionen und untervermietbaren Zimmern, war diese Form des Unterkommens alleinstehender Arbeiter in den Industriezentren Ende des 19. Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg v erbreitet. In Dresden boten zum Beginn des 20. Jahrhunderts Einrichtungen der Volkswohlfahrt Kost und Logis für junge Leute zwischen 14 und 21 Jahren. Die Stadt übernahm Kosten für ärztliche Betreuung, Ernährung und Pflege und der Armen auf der Basis des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz von 1871.
4 Dresdner Neueste Nachrichten vom 7. Oktober 1913
5 Teilweise gab es im Hechtviertel noch bis nach der Wende solche Verhältnisse.
6 Protargol war das erste antibiotische Mittel von der Pharmafabrik Bayer. Ab 1935 wurden Sulfonamide von Domagk und seit 1944 dann Penicillin eingesetzt. Seit Ende der 60er Jahre verstärken sich die Resistenzen des Bakteriums gegen die Medikamente.


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.