Mit einem Aufschrei riss die Schulze, die Gattin des Besitzers des Hotels Zum Kronprinzen auf der Neustädter Hauptstraße, die Arme hoch und ließ beinahe ihren Einkaufskorb fallen. Erna Weymuth, die Angetraute des Prinzlichen Hof-Coiffeurs aus der Nummer 5, konnte sie gerade noch zur Seite reißen und ein Fallen verhindern.
Laut lachend fuhr eine Radlerin in hohem Tempo an ihnen vorüber. Schnell eilten die Witschlerin, deren Mann seit kurzem in diesem noch jungen Jahr 1897 der neue Buchhalter im Neustädter Rathaus war sowie die Stadtratswitwe Traude Schmiedel den beiden Damen zu Hilfe. „Was war das denn?“, rief, die Hände in die Hüften stützend, die Schmieder. Die Hotel-Schulze japste nach Luft und war einer Ohnmacht nahe. Ihre Freundin Erna drohte faustschwingend hinter der davonsausenden Radlerin her.
Erregung öffentlichen Ärgernisses
„Wo ist der Wachtmeister Breuer, wenn man ihn mal braucht. Diese Raserei gehört verboten.“ Dem stimmte das restliche Quartett zu. „Es reicht doch, dass die frechen Jugendlichen ohne Anstand die Hauptstraße als Rennbahn nutzen. Aber Frauen? Neee, das ist nicht damenhaft. Das ist unzüchtig. Und das ist die Schuld dieser Suffragetten-Weiber1, sagt mein Mann. Die wollen sowas wie Gleichberechtigung und auch noch wählen, sich selbst und andere. Hier sieht man die Auswirkungen. Und wie frivol die angezogen sind. Furchtbar“, meinte laut schimpfend die Schulze. Vor lauter Erregung entluden sich flatternd ihre Blähungen.
Radfahrerkrankheit
„Aber diese …, das Wort Dame verbietet sich, wird bald merken, dass es ihr schlecht ergehen wird“, fügte Erna Weymuth, etwas pikiert die Nase rümpfend, dazu. Witwe Schmieder aus der Hauptstraße 7 wusste mehr. „Ich habe von einem Professor von der Technischen Hochschule gehört, dass gerade Frauen das Radeln nicht bekomme.“ Das wollten die anderen Drei genauer wissen. „Also, dieser Professor meinte, dass den Frauen durch das starre Festhalten an der Lenkerstange die Hände breit und hässlich werden würden.“2
Die Buchhaltergattin blickte entsetzt auf ihre Hände, die die Natur sehr schmal gestaltet hatte. „Igitt. Dann könnte ich nie mehr Klavier spielen. Durch die breiten Finger träfe ich keine Taste mehr richtig, und ich hätte Hände wie Bärentatzen.“ Die Schulzen konnte Erna gerade noch festhalten und somit einen Schlag verhindern. Diese Vorstellung zeitigte auch blankes Entsetzen auf dem Gesicht der Weymuth, denn die hatte sich mit dem Gedanken getragen, ein solches Gefährt von Rad anzuschaffen. Zumindest hatte sie ihren Hof-Coiffeur fast so weit, dass er einem Kauf nicht abgeneigt wäre.
Verordnungen für den Fahrradverkehr
Inzwischen war Wachtmeister Breuer nach seinem Rundgang durch die Hauptstraße beim zeternden Quartett angelangt. Und diese erzählten ihm gleich von diesem liederlichen und unzüchtigem Verhalten des radelnden Frauenzimmers. Breuer kannte alle vier und beruhigte sie erst einmal. „Ich habe die Raserin wohl bemerkt, aber die war zu schnell weg.“ Die Stadtratswitwe hatte es auf der Zunge, aber sie verkniff sich eine dahingehende Äußerung, dass der Wachtmeister nicht mehr der Jüngste wäre und seine Plattfüße und der Bierwanst ihn daran gehindert hätten, mal einen Spurt hinzulegen.
„Aber unsere Amtshauptmannschaft ist dran an dem Problem und hat schon vor längerem entsprechende Verordnungen erlassen“, informierte Breuer.
Diese besagten, dass der Fahrer beim Herannahen an Spaziergänger eine Glocke zu betätigen habe. Und das Fahren auf Fußwegen an den Chausseen und Straßen sei generell verboten.
Zuwiderhandlungen werden mit einer Geldstrafe von 15 Mark geahndet. Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit der Fußgänger sollten diese die Exekutivbeamten bei deren Einschreiten tatkräftig unterstützen. Zudem brauche das Fahrrad neben einer Glocke auch eine Beleuchtung. Dann darf nur rechts gefahren werden. Man habe Rücksicht zu nehmen. Des Weiteren dürfen nie zwei Fahrer nebeneinander oder zu dicht hintereinanderfahren. Und bei Verstößen letzterer Anweisungen koste das 60 Mark. Oder man werde bei Uneinsichtigkeit für bis zu 14 Tage arrestiert.3
Das Dilemma der Polizei
Die Gattin vom Hotelinhaber Zum Kronprinzen schaute den Wachtmeister von oben bis unten an. „Und? … Wo waren Sie, als ich fast umgefahren wurde? Ich hätte meine Kinder als Halbweisen und meinen lieben Johann Christoph Reinhold als Witwer zurücklassen müssen.“ Wachtmeister Breuer hob resigniert die Hände und seufzte. „Tja, werte Dame. Es tut mir leid. Wir haben halt zu wenig Personal und ich kann nicht überall sein. Aber wenn wir jemanden erwischen, dann spürt derjenige oder in Ihren Fall, diejenige, schon die volle Kraft unserer königlichen Ordnung.“ Vom niedrigen Beamtensold sprach er erst gar nicht. Das wäre auf dem kurzen Dienstweg schnell zu seinen Ungunsten ausgelegt worden.
Schließlich ging das zeternde Quartett grummelnd auseinander. Ob sich die vier Damen auch über einen vorbeirasenden jungen Herren im schnittigen Matrosenanzug so echauffiert hätten, ist nicht überliefert.
Anmerkungen des Autors
1 Als Suffragetten wurden Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts Frauenrechtlerinnen vor allem in Großbritannien bezeichnet, eines der wichtigsten Ziele war das allgemeine Frauenwahlrecht. Mehr dazu im Artikel vom Dezember 2019.
2 aus der Zeitschrift „Die Radlerin“ vom 10. März 1897
3 aus „Behördliche Verordnungen, das Radfahren in Sachsen betreffend, 1891
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.