Nein, es fuhr kein Auto blitzeschnelle um eine runde Ecke, wie es in einem Spaßliedchen heißt. Damals gab es derartige Vehikel nicht. Sie waren nur in den Köpfen besonders phantasiebegabter Zeitgenossen nebulös vorhanden. Wir schreiben das Jahr 1786. Die deutschen Lande erholten sich gerade vom unsäglichen Siebenjährigen Krieg, der auch die Residenz Dresden durch preußischem Beschuss sehr in Mitleidenschaft zog.
Und am Horizont sammelte im Untergrund die sich anbahnende Französische Revolution mit den fatalen napoleonischen Auswüchsen ihre Munition. Und die Dampfmaschine mit ihrem Krach und Qualm und den scheußlichen Arbeitsbedingungen hatte unsere Gegend noch nicht erobert. Aufklärung und Klassizismus waren Mainstream.
In der Dresdner Neustadt war man, wie auch auf der anderen Elbseite, froh, einigermaßen wieder etwas Frieden und ein gewisses Auskommen zu haben. Und vor allem: es wurde endlich wieder gefeiert, gespielt, gesoffen. Ganz gleich, wie schlecht die Lage war, in der Residenz fand sich dazu immer ein Weg und ein Plätzchen. Das blieb bis heute so.
Das Problem von 1786
Das fand sich in der Beschreibung der Stadtverhältnisse eines unbekannten Reisenden, welche das Dresdner Salonblatt 1907 in einem Archiv ausgrub. Das erste, was ihm auffiel, war die unsägliche Straßenbeleuchtung. „Dresden ist, wie Sie wissen, erleuchtet, nur kann ich mich nicht enthalten, eine mir unverzeihlich scheinende Knauserei des Stadtrates zu rügen. Die Laternen werden ernstlich nur selten alle angezündet, denn es brennt gewöhnlich nur eine…
Und dann geschieht die Erleuchtung nach einer Tabelle, wo bei Mondenschein natürlicherweise keine zu brennen brauchen.“ Es gäbe da wohl ein Problem. Auch wenn laut Kalender, der auch damals schon die Mondphasen aufführen konnte, Vollmond zu sein hätte, schien er noch lange nicht. Denn Mutter Natur machte oftmals dem Sollen auf dem Papier einen Strich durch die Tabelle. Wolken mit Regen verdunkelten die Nacht oder einfach nur ein ewiges graues Einerlei.
Die Gutbetuchten leisteten sich in diesem Falle, wenn sie von einer Soirée in der Königstraße oder aus dem Hoftheater auf der Altstädter Seite den Heimweg in die Meißner antraten, zu bezahlende Bedienstete, die mit einer Fackel oder einer Laterne vor ihnen herliefen.
Aber die kleinen Leute, die aus einer Kaschemme in der Breiten Gasse den Weg ins heimische Bett zum Obergraben gehen mussten, bedurften eines ausgeprägten Tast-, Seh- und Gehörsinns. In dunklen Herbst- und Wintertagen trieb sich zudem allerlei Gesindel rum, die den braven Bürger gern von seinen Barschaften erleichterten. Oder man trat recht häufig in die Verdauungshinterlassenschaften von Pferden, Hunden und Mitmenschen.
Vergnügt wurde sich trotzdem
„Die Vergnügungen bei den geringeren Klassen bestehen darin, dass sie des Winters abends um 6 oder 7 Uhr in Bierhäusern zusammenkommen und allda über den Inhalt der Zeitungen räsonieren1, im Sommer aber sich in die vielen um die Stadt her befindlichen Gärten zerteilen und ihre Zeit mit Kegeln und anderen Spielen zubringen“.
Im oben erwähnten Dresdner Salonblatt fand sich auch eine beschriebene, gut erkannte mentale Eigenschaft der hiesigen Bewohner. Nämlich, „dass alle Dresdner im Ganzen genommen, das Vergnügen über die Maßen lieben und besonders in den höheren Klassen oft mehr darauf verwenden, als ihre Einkünfte eigentlich gestatten.“
Diese höheren Klassen „bringen den Winter meist mit Privatgesellschaften, Kränzchen und dergleichen zu. Teils besuchen sie die Konzerte, welche oft auf allen Kaffeehäusern gehalten werden, teils besuchen sie das Schauspiel, wo wöchentlich dreimal Komödie und zweimal Oper ist oder vergnügen sich auf Masken- und anderen Bällen.“ Zudem ist noch alle vierzehn Tage Hofball und die Gesandten der europäischen Staaten „empfangen wöchentlich alles, was zum Adel gehört.“
Sonntags-Tanz
Ansonsten ist sonntags von 6 bis 9 Uhr Tanz fürs Volk. Und dort erklingen, trotz scharfer Kontrollen, immer öfter verbotene anrüchige, sittenverderbende und an Majestätsbeleidigung grenzende Lieder. Das sind dann wohl die Folgen der Aufklärung, wie von den Kanzeln sonntags morgens herunter gewettert wurde.
Nur den Weg nach Hause musste man im Dunkeln finden, der eine mit Diener und Fackel und der andere mit seinen Sinnen. Es sei denn, die Wolken hatten sich verzogen und es herrschte Vollmond.
Anmerkungen des Autors
1 räsonieren – hier eher im Sinne von diskutieren, debattieren verwendet
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.