Mit zügigem Tempo fuhr Max Friedrich den neuen ADLER des Konsuls der Dominikanischen Republik aus dem Hof des Konsulats auf der Schillerstraße1 links in Richtung des Albertplatzes. Auf der Königstraße musste er ein Kleid der Frau Konsul für den Hofball abholen.
Um diese späte Vormittagsstunde Ende Februar 1907 war die Bautzner stark frequentiert. Immer wieder musste er bremsen, an den Haltestellen der Straßenbahn auf die Ein- und Aussteigenden warten und Fußgängern ausweichen, die unvermittelt auf die Straße traten. Nun trat er recht hart auf die Bremse. Und zwar so stark, dass es ihn fast über das Lenkrad auf die Straße geworfen hätte.
Saß doch vor ihm ein kleines Mädchen auf der Fahrbahn und spielte ungestört mit seiner Puppe. Die Mutter schwatzte mit zwei Frauen direkt am Rande und drehte sich erschrocken zu ihrem Kind um, als sie die quietschenden Bremsgeräusche vernahm.
„Gönn’se nich uffbassn, Sie Dösgobb?“, blaffte sie den Fahrer an und führte das erschrockene Kind auf den Gehweg.
„Was heißt hier, ich soll aufpassen? Das hier ist eine Straße für Autos, Fuhrwerke und Straßenbahnen. Für Sie gibt es den Fußweg“, erwiderte Max höflich, aber bestimmt.
„Haun’se ab, sie Schnösel und nehm’se ihre stinkende Modordroschge gleich midd“, kam zur Antwort. Ja, diese sächsischen Weiber, immer müssen die das letzte Wort haben, dachte er bei sich und fuhr von dannen.
Der Kampf um die Wegehoheit
Zwar hatten sich die Menschen, zumal die in der Residenz daran gewöhnt, dass die rasante Entwicklung der Technik immer neue Gerätschaften und Fahrzeuge hervorbrachte. Das hieß aber, dass man noch lange nicht daran gewöhnt war, die Bedeutung von Fuß- und Fahrweg auseinander zu halten. In einer Ausgabe des Dresdner Salonblatt von 1907, dem Leib- und Magenblatt der Reichen und Schönen der sächsischen Landeshauptstadt wurde diesem Problem auf den Grund gegangen.
„Die guten alten Zeiten, wo man mit Kind und Kegel gemächlich seine Spaziergänge auf den Gassen des Städtchens zurücklegte, sind längst vorüber. Längst ist aus der Gasse eine Straße geworden, die sich in Fahrdamm und Fußweg geteilt hat. … Wer sich an diese Wandlung nicht gewöhnen kann, den ereilt eben sein Schicksal in Gestalt eines Straßenunfalls, den er sich gewöhnlich selbst zuzuschreiben hat“, hieß es im Salonblatt.
Polizeiberichte von anno dazumal
Die Polizeiberichte (hier einige Unfallnotizen aus den Dresdner Nachrichten vom Februar 1907)2 sind voll von allen möglichen Unfällen auf Dresdens Straßen. So verpasste ein Oberpostsekretär beim Absprung von der Plattform der Straßenbahn auf der Königsbrücker Straße (weil er mit dem Ausstieg nicht bis zur nächsten Haltestelle warten wollte) den Boden der Fahrbahn und kam mit einem Fuß unter die Räder der Bahn. Er blieb zeitlebens ein Krüppel.
Auf der Hauptstraße geriet ein Kind beim plötzliche Tritt auf die Fahrbahn unter ein Auto und musste mit mehreren Beinbrüchen ins Krankenhaus. Auf der Karolabrücke wurde eine 70-jährige Zeitungsträgerin von einer Pferdkutsche umgerissen. Sie erlitt innere Verletzungen. Der Droschkenfahrer kümmerte sich nicht um die verletzte Frau und fuhr davon. Er konnte aber ermittelt werden. Schwere Kopfverletzungen und Quetschungen erlitt auf der Glacisstraße ein Konditor. Er wurde von einer Jagdkutsche umgerissen und überfahren.
Während sich die jungen Leute schnell an die modernen Verkehrsmittel gewöhnten, haben die älteren damit noch ihre Probleme. Oftmals verhalten sie sich hilflos auf den Fahrbahnen.
Einführung der Fahrerprüfung
Dass auch auf Seiten der Auto- und Motorradfahrer etwas getan werden musste, um die Anzahl der Unfälle zu verringern, war den Motor- und Automobilverbänden zunehmend bewusst. So hatte zu Beginn des Jahres 1907 „der Motorfahrerverein Dresden (mit ca. 15.000 Mitgliedern) eine Kommission ins Leben gerufen. Dies war eine Ortsgruppe der Motorfahrervereinigung Deutschlands, dem der größte Teil der Motorwagen- und Motoradfahrer nicht nur der Residenz, sondern auch die aus vielen sächsischen Ortschaften angehörten.
Ihr gelang es, dass die Kommission von der Königlichen Polizeidirektion Dresden anerkanntwurde. Diese prüfte dann die Motorfahrer auf ihre Fertigkeiten im Fahren. Wer also in Zukunft nicht den Beweis erbrachte, dass er befähigt war, sein Fahrzeug mit Umsicht und Sicherheit zu regieren, musste Dresdens Straßen fernbleiben“, so eindeutig im Dresdner Salonblatt geschrieben. Auch wenn sich zunächst nur die Motoradfahrer ausweisen mussten, folgten bald die Autofahrer nach.
Auch gegen die damals schon vorkommenden Raser wollte der Motorfahrerverein (gemeinsam mit der Polizei) vorgehen, „denn die überwiegende Anzahl der Motorfahrer wird stets mit Vergnügen bereit sein, den Behörden im Kampf gegen diese Auswüchse, die ja überall in jedem Sportzweig zu finden sind, die Hand zu bieten.“
Ein Auto für viele
Das war eines der Interessen des Motorfahrervereins. Man wollte kein Eliteklub sein. Man sah die Vorteile des Autos und des Motorrades auch für Ärzte, Geschäftsleute, Beamte. Schon damals sollen diese Fahrzeuge preisgünstiger im Unterhalt als Pferde und Droschken. Autos sind vornehmer, von einer Person zu handhaben und brauchen weder Pferdeknecht, eine Weide, Futterscheunen und Kutscher. Nur die Anschaffung kostete etwas mehr als ein Apfel und ein Ei.
Sich diesen Dingen durchaus bewusst, fuhr Chauffeur Max Friedrich (noch ohne Fahrprüfung) mit seinem ADLER zurück zur Residenz des dominikanischen Konsuls. Dessen Frau wartete schon auf das Ballkleid.
Anmerkungen des Autors
1 heute Bautzner Straße
2 Dresdner Nachrichten vom 18. bis 22. Februar 1907
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.