Anzeige

Lange Nacht der Angst im Hygiene-Museum

Dresdens erster Fernbahnhof, Teil 3

Auch wenn zur feierlichen Eröffnung der ersten deutschen Fernbahnlinie 1839 zwischen Dresden und Leipzig tausende Sachsen die Gleise zwischen den beiden Städten säumten und Majestät nebst kinderreichem Bruder mal eben zum Mittagessen in die Messestadt fuhr, war dieses dampfende und Dreck schleudernde Ungetüm nicht bei jedem im Königreich wohl gelitten.

Leipziger Bahnhof im 19. Jahrhundert
Leipziger Bahnhof im 19. Jahrhundert

Die dummen Landeier

In einer Rückschau betrachtete das Dresdner Salonblatt 1907 die zahlreichen Bedenken. „… man wetterte und schimpfte auf das teuflische Ding, das einem aus seiner bisherigen Lethargie zum flotteren Wirken und Handeln antrieb. Ja, die Verachtung und der Abscheu vor dem Teufelskarren und die Angst, aus seiner bisherigen Beschaulichkeit gerissen zu werden, ging sogar so weit, dass sich ganze Gemeinden mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln gegen die Verbindung mit der Eisenbahn wehrten.“

Und dann musste auch noch das „Bäuerlein“ aus den „bildungsfernen“ Landstrichen für den Spott der sogenannten „Fortschrittlichen“ herhalten. „Und wenn damals das biedere Bäuerlein mal den mühevollen Weg nach der Stadt auf stundenlangem Wege zu Fuß oder zu Wagen auf schlechter Landstraße zurücklegte und unterwegs dem furchtbar rauchenden und pustenden Ungeheuer begegnete, da bekreuzigte es sich voller Schrecken vor dem teuflischen Gefährt und bat seinen lieben Herrgott, ihn vor demselben zu bewahren.“

Es gab auch andere Bauern

Einer von ihnen war Bauer Herfried Reichelt aus Böhla, keineswegs bieder und keineswegs von vorgestern. Am 10. April des Jahres 1839 ließ er sich von seinem Knecht zum Bahnhof Priestewitz fahren und bestieg dort ohne Scheu die Eisenbahn in Richtung des Leipziger Bahnhofs von Dresden. Die Neugier führte ihn in die Residenz, und nein, das dampfende Ungeheuer war für ihn kein Teufelszeug. Ihn stank etwas anderes an, nämlich das ungebührliche Verhalten saufender und lärmender Leipziger Studenten, die die Bahn als Touristen für einen Tagesausflug nutzten. Er machte seinem Ärger in einem Brief an die Sächsische Dorfzeitung, die diesen am 19. April 1839 veröffentlichte, Luft.

Anzeige

Advenster.org

Anzeige

Villandry

Anzeige

Archiv der Avantgarden - Welten Bauen. Visionäre. Architektur im 20. Jahrhundert

Anzeige

Blitzumzug

Anzeige

Societaetstheater

Anzeige

Blaue Fabrik

Anzeige

Archiv der Avantgarden - Der Wandel wird kommen

Anzeige

Agentour

Anzeige

tranquillo

Anzeige

Kreuzretter für die Rückengesundheit

Zunächst bedauerte er die von den Eröffnungsfeierlichkeiten „niedergetretenen Felder vor dem Leipziger Tor“1 der Dresdner Neustadt. Ein ihm bekannter Dresdner führte ihn in eine Tabergie in der Rähnitzgasse. Das war eine Kneipe, in der man dem Tabakrauchen frönen durfte, das in jenen Jahren anderen Ortes, auch im Freien, im Königreich verboten war. Bauer Reichelt bezeichnete diese Tabergie als anständig. Denn das waren viele andere dieser Etablissements nicht. Dort tummelten sich „Lehrburschen, unanständige Frauenzimmer“ und andere Merkwürdigkeiten.
Mit einem Töpfchen Waldschlößchenbier in der Hand drückte er sich in eine Ecke und beobachtete das stimmungsvolle Treiben. Ein angedudelter, lustiger Bayer umfasste mit seinen Pranken seinen Kopf, drückte ihm einen großen Schmatzer auf die Stirn und nannte ihn, breit grinsend, „ein altes bemoostes Haupt“.

In der Tabergie, Zeichnung von Adolf Glasbrenner
In der Tabergie, Zeichnung von Adolf Glassbrenner

Herein kamen dann auch die Studenten, denen er schon im Zug begegnete. Diese bemächtigten sich gleich des Billardtisches. Eines dieser Milchgesichter „machte sich durch seine bornierten Reden und unhöflichen Manieren bemerklich“, wie Bauer Reichelt in seinem Leserbrief betonte. Dieser Studiosus nahm zudem auch seine Kopfbedeckung nicht ab.

Die Durchsetzung der Ordnung

Dieser Affront regte den Bauern aus Böhla besonders auf. „Man sagt öfter, ‚der ist grob wie ein Bauer‘, aber bei uns wird’s den Kindern fast täglich in der Schule eingeprägt, dass sie fein höflich sein sollen.“ Das bemützte, hochnäsige Studentchen schien auch anderen aufzufallen. Einer der Mitspieler verlangte die Abnahme der Kopfbedeckung. Da begann ein lautes Streiten zwischen den beiden, dass darin endete, dass das Milchgesicht den Mitspieler zum Duell am anderen Morgen forderte.

Dem Bauern wurde ganz schlecht, doch der Herausgeforderte ließ nich nicht beirren. Er erklärte, „wenn ihm damit gedient sei, könne er die Ohrfeigen gleich bekommen“. Und das Milchbubi zog sich eingeschüchtert unter lautem Gelächter der anderen zurück.

Anzeige

Kieferorthopädie

Anzeige

Agentour

Anzeige

Advenster.org

Die Sorge des Bauern

Eine Frage richtete er an seine Zeitung, „ob man denn wirklich in unserem Vaterlande noch Gefahr laufen könne, von einem solchen ‚Helden‘ sans facon2 niedergestochen oder tot geschossen zu werden?“

Die Redaktion der Sächsischen Dorfzeitung antwortete, dass solche Art von Duellen, die „in letzter Zeit öfter vorgekommen seien“, gesetzlich verboten sind. Was aber die Ursache des Streits war, nämlich das Nichtabnehmen der Kopfbedeckung, habe man eine andere Meinung als Bauer Reichelt aus Böhla und der Mitspieler am Billardtisch. In den großen Städten sei es mittlerweile so, „dass jeder in den Gesellschaften für sein Geld lebt, dass man seine Kopfbedeckung aufbehält. … In der großen Welt denkt man nicht mehr an solche Kleinigkeiten, sofern sich einer sonst anständig benimmt.“

Unser armes Bäuerlein aus Böhla musste eine noch bittere Pille vom arroganten Blatt-Redakteur schlucken. „Auch ist uns kein Gesetz bekannt, welches das Abnehmen der Kopfbedeckung an öffentlichen Orten befiehlt. Wer sich also bei den jetzigen Zuströmen von Fremden nach Dresden nicht über solche Lappalien hinaussetzen kann, der bleibe fein zu Hause.“

Auch wenn der Anschluss der Residenz mittels Eisenbahn an die Welt und neuem Leipziger Bahnhof dem Tourismus, den Hotels und den Gastwirtschaften sowie dem Stadt- und Staatssäckel kräftige Einnahmen bescherte, werde es wohl unseren Herfried aus Böhla nicht so schnell wieder in die Residenz ziehen.

Anmerkungen des Autors

1 Auch als Weißes Tor bekannt in der Nähe des Palaisplatzes, mehr Infos im Stadtwiki.
2 aus den Französischen, wörtlich: ohne einen Weg; Nein, danke. Umgangssprachlich: ohne Weiteres, einfach so


Dresdens erster Fernbahnhof

Erster Teil einer kleinen Reihe zu dem Bahnhof, der heute als Alter Leipziger Bahnhof bekannt ist. Wer sich für detaillierte technische Informationen zur Leipzig-Dresdner Eisenbahn interessiert, findet in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek, in der Städtischen Bibliotheken sowie im Internet sehr reichhaltige Literatur. Diese Reihe befasst sich mit den Geschichten am Rande, die mit Realem und Fiktivem verwoben sind.

Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek.