Kürzlich hatte ich das Vergnügen am letzten Frühstück in der Kuchenglocke am Martin-Luther-Platz teilzunehmen. Der Chef hat das Café nun eingestellt und führt schon intensive Verhandlungen über eine Fortführung durch kompetente Interessent*innen.
Dieses Frühstück war zauberhaft und der sehr freundliche und flinke Kellner versetzte mich in einen kleinen Erinnerungstaumel. Es ist rund 30 Jahre her. Damals gab es eine kleine kultige Kneipe auf der Kamenzer Straße, die ReiterIn. Benannt nach einer Kunstzeitung und gestaltet mit Tageszeitungen an den Wänden, einem Kachelofen, und irre viel Zigarettenrauch.
Meiner Erinnerung nach war der Reiter, wie wir die Kneipe despektierlich nannten, das erste Lokal seiner Art, dass in Dresden Frühstück anbot. Als Frühstückskellner durfte ich mir seinerzeit dort ein paar Groschen verdienen.
1992 gab es keine Karte
Eine Speisekarte gab es nicht, das Angebot war überschaubar und hatte ich im Kopf. Herzhaft oder süß. Klein für fünf und groß für acht Mark1. Ein Kaffee inbegriffen. Um 11 Uhr wurde geöffnet, ich war eine knappe Stunde vorher da. Die Kneipe hatte zehn Tische, im Schnitt bedeutete das vierzig Portionen. 60 doppelte Weizen-Brötchen hatte ich zur Schicht mitgebracht.
Wir waren stets zu zweit, ein Frühstücks-„Koch“ und ein Kellner. In der Miniküche ging es an die Vorbereitungen. Joghurt und Quark aus dem Gastro-Plastik-Eimer wurden verrührt mit Schattenmorellen aus dem Glas und getrockneten Kräutern.
Für das Herzhafte gab es zum Quark Kochschinken und Salami, naja eigentlich Zervelatwurst, beides wurde von großen Rollen frisch abgeschnitten. Dazu noch ein, zwei Stückchen Butter und gut. Das Süße wurde mit Marmelade, Nutella und Honig in kleinen Glasschälchen bestückt.
Extrawünsche? Ja, die waren möglich. Man konnte ein Rührei, mit frisch getrockneten Kräutern ordern oder ein Gekochtes, ob nun hart oder weich war weniger vom Kundenwunsch denn vom Zufall abhängig. An Kaffeespezialitäten hatten wir im Angebot: Filterkaffee und Filterkaffee. Immerhin hatte der Gast die Möglichkeit zu zuckern oder H-Milch dazu zu geben. Nicht zuletzt gab es genau eine Sorte Orangensaft, die günstigste aus dem Discounter-Karton.
Frühstück 2022
Vor mir steht das Einstiegsangebot „Elbflorenz“, frischer Schinken rollt sich unter frischer Petersilie, ein paar Oliven glänzen im Schälchen, die Butter ist zauberhaft zu einem gewelltem Kegel gedreht, Mozarella schmust mit, na klar, frischen Tomaten, ein Florentiner2 mit Heidelbeeren und über dem frisch gepressten Orangensaft lümmelt eine frische Orangenscheibe. Dazu gibt es auch Weizenbrötchen, ich hätte aber auch dunkle oder welche mit Körnern oder Weißbrot haben können. Beim Kaffee kann ich wählen zwischen Espresso, Latte Macchiato mit Hafer- oder Kuhmilch, ach, alle Möglichkeiten aufzuzählen würde viel zu lange dauern. Natürlich gibt es auch diverse Ei-Variationen.
Frühstück-Grundpreis: 15,- Euro, Saft und Kaffee extra. Dabei sitzen wir in zauberhafter Umgebung, der Raum atmet Geschichte, hier war schon ein russisches Restaurant und eine Buchhandlung drin, man schaut auf den Martin-Luther-Platz und von draußen strahlt die Sonne herein.
Kaffee und Zigaretten
Ganz anders 1992. Meist war die Kneipe um Viertel 12 voll besetzt. Reservierungen waren nicht möglich. Um halb Eins hatte dann der letzte sein Frühstück, da waren die ersten schon fertig und zum gemütlichen Teil des Frühstücks übergegangen. Das heißt: „Noch’n Kaffee!“ und dann wurden die Kippen angezündet. Irgendwie rauchte damals jeder, auch wir beiden Kellner, na klar. Die Luft zum Schneiden und rausgucken war nicht angesagt. Und Freundlichkeit beim Frühstückspersonal? Na, nicht mit mir.
Schwer vorstellbar, dass heute jemand in einer solchen Spelunke frühstücken würde. Doch damals war es der heiße Scheiß und wir mussten jedes Mal Gäste abweisen. Und ich bin mir ziemlich sicher, die gastronomische Gewinnspanne war damals deutlich höher. Dennoch, Beschwerden gab es selten, dafür hin und wieder ein kleines Abenteuer.
Anmerkungen des Autors
1 Acht Mark 1992 entsprechen inflationsbereinigt heute etwa 6,80 Euro. Zum Vergleich: Der Kellnerstundenlohn betrug damals in der Regel 10 Mark, heute sind 12 Euro und mehr üblich.
2 Keks mit Schokoüberzug
War früher alles besser?
- Als kleine Erinnerungsstütze an die frühen 1990er Jahre habe ich in loser Folge ein paar Geschichten über die wilde Zeit von damals veröffentlicht.
- Alle Geschichten unter #Früher-war-alles-besser? oder in den Büchern „Anton auf der Louise“ und „Anton und der Pistolenmann“
Die Kneipe musste später von der Ecke Sebnitzer/Kamenzer Straße weichen, heute ist da eine Wohnung drin. Nach einem kurzen Gastspiel im Stadtteilhaus lebte die ReiterIn auf der Görlitzer Straße nochmal richtig auf, um dann endgültig zu schließen. Nachzulesen hier.
Nachtrag
Die „Kuchen-Glocke“ hat inzwischen als „Glocke“ wiedereröffnet.
Dein Erinnerung ist anders als meine. Ich erinner mich an Frühstück in der Eisgrotte. Ich glaub, das war eher als im Reiter.
Die Eisgrotte war ja nun keine Kneipe, eher ein Café. Aber ja, dort gab es auch Frühstück. Ich erinnere mich an unzählige kleine Plaste-Verpackungen für Marmelade, Magarine und Co. Ich weiß gar nicht genau, ob es das Frühstücksangebot dort erst nach der Wende gab. Einen hübschen Eindruck der Szenerie dort gibt dieses Foto wider.
na und Rührei gabs auch. Die einzigen Brötchen am Sonntag (wenn auch eher heutige Tankstellenbrötchen), und die coole Jugend. Im Reiter waren ja nur die schlimmen. Also das Waldo-Umfeld.
@Anton
..sieht aus als würde die glückliche junge Dame mit ihrer Kaugummipackung im Arm auch anstehen, um ein leckeres Frühstück einzunehmen… saubere Perspektive!!!
..;-)
@Echt ? Ich kann Dir nicht folgen.
@Anton die beiden ganz hinten in der Schlange ;)
Ach, ihr meint das verlinkte Lothar-Lange-Bild von der Eisgrotte. Sorry. Jetzt ist der Groschen gefallen. Ich würde nicht ausschließen, dass er das absichtlich so fotografiert hat. ;-)
…@Anton
…schau mal das Bild „dieses Bild“ / Eisgrotte aus deinem Kommentar genauer an. Nicht zu sehen, dass es ein Fahrradständer war… (gelbes Shirt) ;-)
Das mit dem Fahrradständer weiß man nur, wenn man es erlebt hat. ;-) Die Spearmint-Dame war damals allgegenwärtig.
Das ist ein Foto des Fotografen Lothar Lange, der Anfang der 1990er die halbe Neustadt abgelichtet hat.
@Anton
Also gerade eben sah das ziemlich deutlich nach draußen frühstücken aus. Wenn denn das Ende verkündet wurde, wäre eine Weiterführung auch mal ne Meldung wert…… Ein sonniges Restwochenende
Soweit ich weiß, gibt und gab es die ganze Zeit Kaffee und Backwaren in Selbstbedienung.