Das Klopfen an der Tür wurde immer lauter. Pauline Pause wachte langsam auf. Der gestrige Abend im „Erzgebirgischen Garten“ an der Ecke Scheunenhofstraße zur Königsbrücker in der Dresdner Neustadt war wohl zu wild gewesen. So toll getanzt und gelacht hatte sie schon lang nicht mehr. Die Burschen waren freigiebig und freizügig. In jeder Hinsicht. Und nun hatte sie es beinahe verschlafen.
Das Klopfen an der Tür artete inzwischen zu einem nervigen Hämmern aus. Der kleine Ewald neben ihr schreckte hoch und begann zu weinen. Und das Balg in ihrem Bauch strampelte. Pauline warf sich eine Jacke über ihren nackten Körper und öffnete gähnend die Tür. Davor stand ein junger Kerl, so um die Mitte Zwanzig.
„Sind Sie die Frau Pause, die eine Schlafstätte zu vermieten hat?“ Besagte nickte.
„Sie sind aber recht früh hier. Kommens rein und setzen sich dort auf den Stuhl“, entgegnete sie etwas mürrisch.
Dann entledigte sie sich ungeniert der Jacke und präsentierte dem jungen Mann ihren blanken Hintern. Vom zweiten Stuhl nahm sie Unterhose, Strümpfe, Rock und eine Bluse und zog alles in einer Seelenruhe an. Dies entlockte Franz eine tiefe Röte im Gesicht und aufsteigende Hitze in der Lendengegend. Den Blick auf das sich bewegende Hinterteil konnte er nicht abwenden.
Pauline merkte dies und grinste. „Wie heißen Sie?“
„Franz Jaselsky“, stammelte dieser. „Ich arbeite seit kurzem bei der Sächsischen Staatsbahn am Neustädter Bahnhof als Verladegehilfe. Zuhause bin ich in Schlesien. Von meinen Kollegen erhielt ich diesen Tipp für eine Schlafstätte, denn bei meiner letzten Bettstelle konnte ich nicht mehr bleiben. Wegen einer Polizeirazzia. Zudem schliefen wir dort zu dritt in einem Bett. Der Gestank war unerträglich.“
„Kannst bleiben. Das Bett ist tagsüber frei. Kostet 1,20 Mark pro Nacht. Ohne Frühstück. Bin ja kein Hotel. Und bezahlt wird im Voraus. Verstanden?“ Franz bejahte und entrichtete seinen Obolus.
„Ich arbeite tagsüber in einer Wäscherei an der Königsbrücker. Hier auf der Scheunenhofstraße 3 wohne ich seit drei Jahren. Einen Mann gibt’s nicht. Der hat sich vor der Geburt des kleinen Ewald aus dem Staub gemacht und das Balg in mir hat ein Schlafgänger als Bezahlung hinterlassen. Deshalb wird auch jetzt im Voraus kassiert.“
Das Schlafgängertum
Die rasch um sich greifende Industrialisierung in den deutschen Landen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zerriss die lange Tradition der Großfamilien. Die jungen Leute vom Lande zogen dahin, wo es Arbeit gab, gründeten Familien und bevölkerten die Randgebiete der Städte. Dresden platzte aus allen Nähten und entwickelte sich zu einer Großstadt mit prachtvoller bürgerlicher Kultur im Zentrum sowie im Osten und Süden sowie arme Arbeitergegenden im Norden und Westen.
Kleine bezahlbare Wohnungen wurden knapp. Und die ledigen jungen Männer, aber auch Mädchen, die vom Lande in die Stadt strömten, um sich ihr hier Brot zu verdienen, brauchten eine Unterkunft.
„Während die Wohnungsfürsorge der deutschen Kommunen sich vornehmlich auf die Unterbringung von Familien des Arbeiter- und des kleinen Mittelstandes in billige und gute Wohnungen beschränkt, bleibt die große Zahl der Ledigen, die auf Schlafgängerstellen und möblierte Zimmer angewiesen sind, unberücksichtigt“, schrieben die Dresdner Neuesten Nachrichten am 16. Juli 1913.
Das führte zu einer sozialen und sittlichen Zersetzung der Familienbande. Dies warf einen erschreckenden Blick in die Lebensgewohnheiten und sittlichen Anschauungen der unteren Volksschichten, so die Zeitung. In Dresden gab es 1895 erfasste 19.836 Schlafgänger. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Das brachte ein Menge hygienischer Probleme mit sich und beförderte eine Verbreitung von Epidemien, der Syphilis, der Tuberkulose und der Krätze. Und die häusliche Prostitution verbreiterte sich, was wiederum zu einer Zunahme von Alkoholismus führte.
Die immer wieder durchgeführten polizeilichen Razzien gegen den sogenannten Sittenverfall bewirkten nur ein Nomadentum der Schlafgänger. Denn die Hauptursache, das Fehlen von sauberen und preiswerten Unterkünften, wurde damit nicht beseitigt.
Eine Lösung musste her
Und die kam aus dem Musterland des Kapitalismus, aus England. Dort gründete man Ledigenheime. Grundlage bildeten die Bereitstellung städtischen Grund und Bodens und die kommunale Übernahme der Bauhypotheken, schrieben die DNN in der oben erwähnten Ausgabe und sie forderte selbiges für die sächsische Residenz. Die bereits bestehenden Einrichtungen im Deutschen Kaiserreich ließen nur Gutes erwarten.
Einzel- und Doppelbettzimmer, Duschmöglichkeiten im Haus, angeschlossene Volksspeisehallen, kulturellen Angeboten und das Achten auf einen „sittlichen“ Umgang führten auch in Dresden unter dem Volkswohl-Gedanken zu entsprechenden Unterkünften. Eine dieser Stätten, das Volksheim, befand sich an der Königsbrücker Straße.1
Raus aus der Armut war die Hoffnung
Als Pauline gegen sechs Uhr abends geschafft heimkam, lag ihr Schlafgast noch im Bett. Während der kleine Ewald sich etwas zum Spielen suchte, betrachtete sie ihren neuen Schlafgänger. Ein hübsches Kerlchen, schlank, dunkle Locken. Wohl etwas jünger als sie, aber nicht zu verachten. Vielleicht hatte sie diesmal etwas mehr Glück und dieser Franz blieb bei ihr. Vielleicht. Aber nicht sehr wahrscheinlich.
Anmerkungen des Autors
1 In einer späteren Ausgabe des Neustadt-Geflüster wird näher darauf eingegangen.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.