Friedrich schlug die Zeitung zu und warf sie nach dem Überfliegen wütend in die Ecke. Den Krieg hatte er unversehrt an der Westfront überstanden. Nach der Revolution fand er auch wieder Arbeit als Schornsteinfeger. Aber nun drohte der Absturz ins Elend. Die Inflation fraß seine wenigen Ersparnisse auf, die Preise galoppierten davon. Doch die Löhne hinkten hinterher. Dem kleinen Mann wurden mittels Inflation die Kosten für die Kriegsanleihen und die Kriegsschäden in Europa aufgedrückt.
Gestern, am 31. Juli 1922, musste man für einen Dollar 560 Papiermark hinblättern, heute waren es schon 660 Mark. Dabei hatte Friedrich noch Glück. Er wohnte mit seiner kleinen Familie im Haus seiner Eltern am Obergraben 10. Eigentümerin war seine verwitwete Mutter Anna Wagner. So brauchte er nur einen symbolischen Mietbetrag zahlen. Darauf bestand seine Mutter. Seine Frau, die Else, arbeitete unten im Haus in der Konsumfiliale. In diesen Zeiten keine zu verachtende Stellung. Die beiden Kinder wurden von Elses Eltern oft tagsüber betreut. Und zudem grassierte immer noch die Spanische Grippe und holte täglich ihre Opfer. Es war zum Verrückt werden.
Treff mit den Freunden
Und diesen Treff hielten sie seit dem Krieg stets dienstags ab. Er war für die drei Freunde aus Kindertagen der Lichtblick der Woche. Jan verlor in der Schlacht bei Verdun 1916 ein Bein und erblindete fast durch Giftgas. Seitdem war er auf die Wohlfahrt angewiesen. Geheiratet hatte er nie. Vor dem Krieg ergab es sich nicht und als Krüppel ohne Einkommen war er danach keine erste Wahl. Für Friedrich und Heinrich war es deshalb eine Ehrensache, dass Jans Beitrag ihres wöchentlichen Treffens vollständig von ihnen übernommen wurde.
Heinrich erging es etwas besser. Just im Herbst 1914 hätte er einen geförderten Studienplatz bekommen, aber da hieß es ab zur Ostfront, gegen die Russen. Das ‚besser gehen‘ war dahingehend gemeint, dass er ohne größere Blessuren von der Front heimkehrte. Seit 1921 studierte er an der Technischen Hochschule in Dresden Ingenieur für Maschinenbau, gefördert durch die neue „Gesellschaft von Förderern und Freunden der Technischen Hochschule Dresden e.V.“ und mit Unterstützung der „Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft e.V.“, dem Vorläufer des sich ab 1929 nennenden „Deutsches Studentenwerk e.V.“
Seit 1920 war Heinrich verheiratet mit Elisabeth aus gutem bürgerlichem Hause. Ihm war bewusst, dass seine Schwiegereltern sich eine bessere Partie für ihre einzige Tochter gewünscht hätten. Aber seine Elisabeth konnte sich mittels ihres vom Vater ererbten Dickschädels durchsetzen. Auch weil der „geplante“ Schwiegersohn nicht aus dem Krieg heimkehrte.
Auf zum Männerbad
Friedrich und Heinrich holten Jan im Rollstuhl ab. In diesen Tagen des Hundes mit Hitze und großer Schwüle gab es nur einen Weg und der führte hin zu den Elbebädern. Da hieß es noch den Wasserstand nutzen, ehe die Elbe vielleicht wieder ein Rinnsal wurde, wie im Sommer 1904. Auch Hochwasser, wie im Januar 1920 konnte man nicht gebrauchen. Die Hochzeit des Elbebadens in der Bädern war ohnehin vorbei. Zu Saisonbeginn 1922 gab es am Neustädter Elbufer nur noch als städtischen Bäder das Frauen- und Mädchenbad unterhalb und das Männerbad oberhalb der Augustusbrücke sowie das Knabenbad unterhalb der Carolabrücke. Die anderen vier (städtischen) Bäder befanden sich linkselbisch zwischen Ostragehege und Blasewitz.
Zwischen 7 Uhr morgens und 7 Uhr abends konnte man sich im Wasser suhlen, merkwürdigerweise sonntags nur von 7 bis 12 Uhr mittags. Erwachsene zahlten nun, inflationsbedingt eine Mark Eintritt. Für Unbemittelte gab das Fürsorgeamt der Stadt immer noch Freimarken aus. Schulkinder konnten nach wie vor kostenlos rein. Und falls jemand seine oder ihre Badesachen vergessen hatte, so konnte man sich selbige (Modell eine Größe für alle) für 50 Pfennige ausleihen.
Die strikte Geschlechtertrennung aus den Vorkriegszeiten wurde beibehalten. Nur die Wasserqualität der Elbe verschlechterte sich immer mehr. Überdüngung, Algenbildung, Fischsterben und ungefilterte, stinkende Abwässer aus Industrie und Haushalten verleideten es den Menschen, in den Fluss zu steigen. Außerdem suchten immer mehr Wasserratten die Mündung der Prießnitz und andere Elbzugänge mit Strandgefilde auf. Da zahlte man keinen Eintritt und es gab keine Geschlechtertrennung und Badeanzugsordnung. Die zunehmende Schifffahrt führte auch zu eingeschränkten Bademöglichkeiten.
Den Moralisten war das Nacktbaden und selbst das Baden in Badehosen und Anzügen ein Dorn im Auge. Für sie waren diese „nackten Freischwimmereien alles Horte des Teufels“. Da sie das nicht verhindern konnten, warnten sie die ehrbaren Bürger vor dem Betreten der unzüchtigen Orte. Aber wer scherte sich schon um die Ansichten dieser ewig Gestrigen. Wenn man den Krieg überstanden, ein Dach über dem Kopf hatte und nicht verhungerte, wenn die Spanische Grippe um einem den Bogen machte oder auch nicht und einem die schlechte Welt da draußen und der Versailler Vertrag egal waren, wollte man nur noch eins: leben. Leben im hier und jetzt. Was morgen komme, könne man ohnehin nicht ändern.
Essen, Trinken, Leben
Der Rückweg in die heimatlichen Gefilde führte sie über den Neustädter Markt. Heinrich hatte den Auftrag vom seiner Frau, einiges zu besorgen. Und die Preise waren seit dem Vortag wieder kräftig gestiegen. Bohnen kosteten nun zwischen 14 und 18 Mark das Kilo, Salatgurken waren für 36 Mark das Kilo zu haben. Am preiswertesten war der Kopfsalat für 1,50 Mark das Stück. Am Tomatenstand ging Heinrich vorbei. 60 Mark für das Kilo waren ihm zu teuer. Und für die eingelegten Heringe musste man bis zu 60 Mark pro Kilo berappen. Heinrich entschied sich für Salat und einem Kilo neue Kartoffeln für 13 Mark.
Dann zog es die drei in ihre Stammkneipe Ecke Obergraben und Königstraße, ihre Zweitwohnung seit mehr als zehn Jahren, bevor es nach zwei, drei Bierchen für die mittlerweile über Dreißigjährigen recht brav und nicht besoffen heimwärts ging.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.