Polizeihauptmeister Meierling ließ seine drei untergebenen Polizeimeister am Eingang zur Alaunstraße strammstehen. Noch eine Stunde bis Mitternacht. Aber die sommerliche Hitze des Tages wollte nicht weichen. Sie strömte aus den tagsüber aufgeheizten Gebäuden auf die Straße zurück. Der Sommer 1902 lief seit Tagen zur Höchstform auf.
Meierling hatte Mitleid. Er war ja kein Unmensch. „Rühren. Bei dieser Demse ist lockre Haltung das Beste.“ Die jungen Polizeimeister nickten dankbar. „Also. Heute Nacht geht es gegen die Hauspinkler in diesem Viertel. Die Beschwerden von den Hausbesitzern mehren sich und bei dieser Hitze wird der Gestank unerträglich. Ich kann das bis hierher riechen.“
Das Problem stinkt zum Himmel
Der Polizeihauptmeister meinte natürlich die sogenannten Wildpinkler, also Leute, die im Freien einfach das Wasser aus ihrem Körper lassen, ohne eine Sanitäranlage zu benutzen. Das Problem hatte in den vergangenen Jahrzehnten, seit sich Dresden rasant zu einer Großstadt entwickelte, dermaßen zugenommen, dass auch tagsüber stets ein Hauch von Urin durch die Stadt waberte.
Die Einheimischen hatten sich daran gewöhnt, aber die Gäste von Außerhalb und die höheren Stände rümpften ihre Nasen und beschwerten sich beim Polizeipräsidenten. Auch die Handwerkerinnungen und Wirtschaftskammern fürchteten um einen Imageverlust und um geschäftliche Einbußen.
Und so wurden die einzelnen Polizeigendarmerien angewiesen, hart gegen das Wildpinkeln vorzugehen. Fast jeder Hauseingang war ein potenzieller Tatort. Die scharfe Säure ließ Bäume und Sträucher eingehen, Türscharniere, Metallzäune und Laternenpfahle rosten sowie Holz vermodern.
Und die Verursacher? Das waren nicht nur die alten Herren und Geschäftsleute aus der Umgebung, die trunken aus ihren Stammkneipen heimwärts zogen und aus Muskelschwund im Lendenbereich oder Vergesslichkeit das Wasser nicht mehr halten konnten. Nein, es waren sehr oft die jungen Leute, die grölend durch die Nacht zogen und um die Wette pinkelten. Wer zum Beispiel den Strahl am höchsten richten konnte, ohne sich selbst nass zu machen, der bekam im nächsten Lokal einen ausgegeben.
Die Ordnungsmacht schreitet ein
Diese war entsprechend der Reichsverfassung (bis auf die sogenannte Fremdenpolizei und einige andere Bereiche) landesstaatlich organisiert. Aber die Möglichkeiten der Polizei wurden verwaltungsrechtlich im Laufe der Jahre eingeschränkt. So heiligte, wie vor der Deutschen Einheit, nicht mehr der Zweck die Mittel, sondern es musste das Mittel für die Erreichung des Zwecks geeignet, notwendig und für den Betroffenen zumutbar sein.1
Polizeihauptmeister Meierling vergatterte seine Untergebenen und schickte sie, sich selbst eingeschlossen, in zwei Trupps die Alaunstraße hoch Richtung Alaunplatz. Mit der Täterfindung wollte Meierling Pluspunkte bei seinen Vorgesetzten zwecks eigener Beförderung sammeln. Zunächst war alles ruhig. Etwas enttäuscht näherten sie sich dem Alaungarten in der Alaunstraße 51. Schankwirt August Handrick bugsierte seine letzten Gäste hinaus und schloss die Kneipe ab. Sperrstunde. Sperrstunde hieß so, weil da der Wirt seine Tür zusperren musste und nichts mehr ausschenken durfte. Das war schon seit dem Mittelalter so.
Die meisten Gäste aus dem Alaungarten entschwanden in Richtung Bischofsweg. Nur einer schwankte die Alaunstraße hinunter, geradewegs auf die Streife zu. Am Eingang zum Laden von Bäcker Otto Worm in der Nummer 47 lehnte sich dieser mit den Kopf an die Hauswand, öffnete seine Hose und ließ einen mächtigen Strahl unter erleichterndem Aufstöhnen an die Ladentür strömen.
Die Polizisten grinsten und ließen ihn sich entleeren. Ehe sich jedoch der Pinkler die Hosen hochziehen und weglaufen konnte, griffen sie zu. Bei dem Täter handelte es sich um den Schneider Hugo Marksteiner aus der Alaunstraße 37. Tage später erhielt der eine polizeiliche Strafverfügung über drei Mark2 wegen groben Unfugs. Doch das wollte der wieder nüchterne Schneider nicht auf sich sitzen lassen und reichte Klage ein.
Vor dem Amtsgericht
Das Urteil wurde mit Spannung erwartet. Das Resultat war immer das gleiche. Die einen waren enttäuscht und die anderen frohlockten. In den Dresdner Nachrichten hieß es: Das Gericht sei der Ansicht, „dass die Tatbestandsmerkmale des ‚groben Unfugs‘ im vorliegenden Falle nicht gegeben seien, weil auf der zu jener Zeit verkehrslosen Straße der Personenkreis fehlte, der an dem Verhalten des Angeklagten hätte Anstoß nehmen können. Vielmehr liege lediglich eine Übertretung der von der Königlichen Polizeidirektion unterm 9. August 1882 erlassenen Bekanntmachung vor, die jedes Verunreinigen der öffentlichen Wege, Straßen, Plätze und Anlagen verbietet.“3 Das Gericht erachtete daher eine Strafe von einer Mark4 als ausreichende Sühne.
Anmerkungen des Autors
1 Konsolidierend wirkte auch die Einführung der Reichsjustizgesetze im Jahre 1878. Den Polizeien der Bundesstaaten wurde reichsweit durch § 163 Strafprozessordnung die Aufgabe erteilt, strafbare Handlungen zu untersuchen (Legalitätsprinzip). Dabei stellten sie Ermittlungen an und trafen, um die Verdunkelung der Sache zu verhindern, Anordnungen, die keinen Aufschub duldeten (repressive Generalklausel).
2 Das entspricht heute in etwa 21 Euro. (lt. Tabelle: Kaufkraftäquivalente historische Beträge in deutschen Währungen; Deutsche Bundesbank, Januar 2022; für das Jahr 1902: 1 Mark = 7 Euro)
3 Dresdner Nachrichten vom 27. Juni 1902
4 Das würde dem heutigen Gegenwert von etwa sieben Euro entsprechen.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
„Wer zum Beispiel den Strahl am höchsten richten konnte, ohne sich selbst nass zu machen, der bekam im nächsten Lokal einen ausgegeben.“
Was waren das doch für herrliche Zeiten und die Strafen so preiswert. Danke für diese historische Inspiration.