Donnerstag, 7. August 1913. Franz Leopold Freigang spazierte am Vormittag besagten Tages mit seiner Luisa über die Hauptstraße in der Dresdner Neustadt. Bibbernd schlug seine Gemahlin den Kragen ihrer Jacke hoch. Auch Franz Leopold fröstelte. Es war schon seit Montag ungewöhnlich herbstlich kühl. 14 Grad zeigte das Thermometer am Rathaus.
„Ich brauche jetzt einen Glühwein“, grummelte die Gattin des Pensionärs. Und da kam ihnen das Café Pomona, eines der ersten vegetarischen Restaurants auf der Hauptstraße Nr. 9, gerade recht.
Das Café war mit dem Vegetarierbund Deutschlands verbandelt, der 1892 in Leipzig gegründet wurde. Vor wenigen Jahren, am 17. August 1908, fand sogar der Welt-Vegetarier-Kongress hier in der Residenz statt. Es war wohl ein bisschen übertrieben mit dem Weltkongress. Ganze 28 Personen waren angereist.
Doch zurück zu Franz Leopold und Luise – im ersten Stock begrüßte sie der Oberkellner und platzierte sie an einem Tisch am Fenster. Und man hatte sich auf die Kühle der Tage eingestellt. Im nu hatten sie ihren roten Glühwein, der in kurzer Zeit seine wohlige Wirkung tat.
Die Sünde spazierte vor dem Fenster
Fast hätte sich Luisa die Gusche verbrannt, als sie zufällig nach draußen blickte. Da lief doch ein junger Bursche, so um die Zwanzig, gemächlich in Richtung Goldenem Reiter – in kurzen Hosen! Sofort machte sie ihren Gatten darauf aufmerksam. „Kein Schamgefühl mehr, diese Jugend. Wo bleibt die Polizei? Denen sollte man oben in der Albertstadt den nötigen Schliff beibringen“, echauffierte sich Franz Leopold lauthals.
Ein Touristenpaar mittleren Alters, der Tracht nach wohl aus Oberbayern, schüttelte mit dem Kopf. „Was regen Sie sich denn so auf?“, gab der Herr zu Besten. „Bei uns laufen die Burschen fast das ganze Jahr in kurzen Krachledernen rum.“
Der Gattin Freigang blieb der Mund offenstehen. Dann fing sie sich wieder. „Was denn. Dieses sündhafte Benehmen akzeptieren Sie auch noch? Schauen Sie nur“ und wies nach draußen. „Der Bursche scheint sich auch noch in seinen engen Kurzen zu gefallen. Wie der schamlos den Hintern präsentiert. Pfui! Das mag wohl in ihren hinterwäldlerischen Gegenden üblich sein, aber hier in der Großstadt sollten sich die jungen Herren nicht so despektierlich verhalten“, gab sie angewidert zum Besten.
Der Oberbayer konnte sich ein Knurren nicht verkneifen und zog dabei die dicken Augenbrauen zusammen. „Also meine Dame. Wir sind keine Hinterwäldler. Das zum Ersten. Zum Zweiten sind die kurzen Krachledernen unsere Tradition. Die müssen auch knackig sitzen. Und zum dritten frage ich Sie, was daran sittenlos sein soll?“
Ehe Franz Leopold antworten konnte, giftete seine Luisa zurück. „Sittenlos ist das Zeigen der Waden, die Beule vorn und der Hintern. Damit machen diese Bursche die jungen Mädchen ganz irre. Sie brauchen nur ein paar Schritte von hier in die Nebenstraßen gehen oder in die Gegenden der Arbeiter im Hechtviertel. Dort sehen Sie diese armen Dinger, die schon mit vierzehn mindestens einen Balg an den Händen halten und nicht wissen, wie sie diese durch den Tag bringen sollen. Verführt von solchen sittenlosen Kerlen, wie dem da.“
Wo war hier die Sünde und wer die Sünder?
Nun platzte der Oberbayerin der Kragen. „Was haben denn kurze Hosen bei den jungen Männern mit der Geburtenfreudigkeit in der Arbeiterschaft zu tun?“
„Eine ganze Menge“, erwiderte die Dresdnerin. „Als es vor ein paar Tagen noch sehr heiß war, konnte man von den Brücken in die Elbebäder schauen und die fast nackten Männer sehen, wie sie sich rekelten und posierten. Und wenn Sie am Ufer in Richtung der Prießnitz spazieren gegangen wären, hätten Sie sogar die ganz Nackten der Reformbewegungen gesehen. Das Schlimmste und Sündhafteste dabei: Nackte Männlein und Weiblein auf einem Haufen. Und weit und breit keine Polizei. Das ist der Untergang.“
Doch so leicht gab die Oberbayerin nicht auf. „Hier, schauen Sie mal. Ich hab mir eine Zeitung von euch aufgehoben, die Dresdner Neuesten Nachrichten vom 31. Juli 1913, also von vergangener Woche. Da ging es genau um dieses Streitthema. Ich lese ihnen mal vor, was ein Bayer, so in ihrem Alter, dazu sagte: ‚Warum die gebirglerische Kniehose so plötzlich verderblich auf die Sittlichkeit wirken und abgeschafft und dafür eine lange abscheuliche Hose getragen werden soll, ist mir ganz unbegreiflich. Aber es gibt Menschen, die beim Anblick auch nur gänzlich harmlosen nackten Teilchens am Menschen schon Sünde wittern. Was für ein hässliches Innere schaut durch solche Augen! Pfui Teufel! Wer hätte nicht schon seine helle Freude gehabt – ob Städter oder vom Lande – beim Anblick eines kerngesunden Burschen in kurzen Hosen mit seinen wettergebräunten starken Knien.‘“1
Die Luise Freigang bekam den Mund nicht mehr zu, japste nach Luft. „Harmlose nackte Teilchen – das ist unverschämt.“ Nach Zahlung der Glühweine, selbstverständlich ohne Trinkgeld, verließ sie eiligst mit ihrem Mann das Café Pomona. Sie wollten nur noch hinaus in die ungewöhnlich kühle, fast herbstliche Luft dieses 7. August 1913. Hauptsache weg von hier. Kein Wunder, dass der Untergang des Abendlandes bevorstehe, wie der Herr Pastor es in seiner letzten Sonntagspredigt in der Dreikönigskirche sagte.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Neueste Nachrichten vom 31.7.1913
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
Immer wieder eine Freude, vielen Dank!