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Sch… Wetter

Ida war stinksauer. Seit Wochen hoffte sie auf schönes Sommerwetter. Ende August wollte sie ihren 30. Geburtstag feiern. Und als Örtlichkeit hatte sie die Wiese an der Mündung der Priesnitz in die Elbe eingeplant.

Etwas Besonderes sollte es sein, etwas in ihren Kreisen noch nicht Dagewesenes, etwas Modernes, Amerikanisches. Etwas, dass man jenseits des Atlantiks als Picknick bezeichnete. Damit wollte sie ihren Albert und ihre Freunde überraschen.

Picknick, Frühstück im Grünen, Gemälde von Edouard Manet, 1863
Picknick, Frühstück im Grünen, Gemälde von Edouard Manet, 1863

Obwohl sich die Gelehrten über dem Ursprung dieser Art Aufenthaltsmöglichkeit heftigst stritten, erfreute sich dieses Gelage in der Natur als Gegenstück zum Biergarten zunehmender Beliebtheit auch in den deutschen Landen. Nicht nur in den ärmeren Schichten. Die Franzosen reklamierten die Erfindung des Picknicks für sich, die Engländer selbstverständlich auch, die Amerikaner erst recht.

Einige Historiker verorteten dieses Essen im Freien in der griechischen und römischen Antike und die Theologen verwiesen auf die Bibel, laut der Jesus 5.000 Anhänger mit Brot und Wein auf wundersamer Weise beköstigt haben soll.

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Blitzumzug

Dies alles interessierte Ida überhaupt nicht. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ihren 30. Geburtstag am 28. August 1922 auf der Wiese an der Priesnitz zu feiern. Und dann dieses miese Wetter mit herbstlicher Kühle und Landregen. Alles Beten und Erpressen der himmlischen Heerscharen mit Spenden an Geld und Kerzen in der Marin-Luther-Kirche in der Dresdner Neustadt hatte nichts geholfen. Vielleicht mochte der Herrgott auch keine inflationsverseuchte deutsche Mark, sondern nur stabile Dollars oder tschechische Kronen. Aber beides besaß Ida nicht.

Komisches Wetter 1922

Den Meteorologen gab das Wetter des Jahres 1922 Rätsel auf. Schon das Frühjahr war zu kalt. Dabei regnete es eigentlich nicht mehr als im Durchschnitt des letzten Jahrzehnts. Nur die Anzahl der Regentage war besonders groß. Ein weiteres Problem war die mangelnde Erfassung der meteorologischen Daten. Diese waren nur auf den Bereich zwischen Island im Nordwesten und dem 20. westlichen Längengrad verortet und reichte im Süden bis Sizilien sowie im Osten bis Moskau. Die Wetterkarte war voll von weißen Flecken.

Picknick, Gemälde von James Tissot, 1870
Picknick, Gemälde von James Tissot, 1870

Einige Wissenschaftler sahen die Ursache des herbstlichen Sommers 1922 in einem abnormen Tief (unter 940 mbar), das, von Irland kommend, seinen Weg über die Nordsee nach Deutschland nahm, sich festsetzte und über die Ostsee nach Sowjetrussland zog, so ein Erklärungsversuch in der Dresdner Volkszeitung am 21. August 1922.

Niemand weiß also etwas Genaues

Andere Wissenschaftler waren Anhänger der Eisbergtheorie, nach der es eine ungewöhnlich große Ansammlung von Eismassen im Nordatlantik gab. Auch in der nördlichen Ostsee waren wesentliche Teile zu einer Art Landmasse geworden, so die Zeitung. „Finnland, Schweden und die ehemals russischen Ostseerandstaaten wurden zu einem einheitlichen Kältegebiet“, welches die Wettersituation in West- und Mitteleuropa beeinflusste, so diese Wissenschaftler.

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Aber diese Abnormitäten des Wetters blieben nicht auf 1922 beschränkt, sondern betrafen auch die Jahre seit 1914.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Das sagte sich Ida als inneren Trost. Zumindest klammerte sie sich an einige Erwartungen der Wetterfrösche, nach deren Ansicht in der Regel nach den kalten Monaten jetzt wärmere Wochen kommen müssten. So stand es zumindest in der Dresdner Volkszeitung. Aber wie das mit Regeln so sei, die Ausnahmen gehörten dazu.

Ida wusste immer noch nicht, ob sie nun einen Picknick-Korb mit Getränken, Kuchen, belegten Broten und Salaten bestücken oder lieber gleich in der Saloppe oder im Lincke‘schem Bad einen Tisch bestellen sollte. Vielleicht wäre ein Besuch bei der alten Fritsche im Nachbarhaus hilfreich. Die war erfahren im Kaffeesatzlesen und wohl auch nicht schlechter als die Herren Wissenschaftler.

Sch… Wetter.


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.