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Die Sorgen alter weißer Männer, die Zukunft betreffend

„Habe die Ehre, Herr Doktor Roßberg.“ Mit einem mehrfachen Diener nahm Barbier Franz Wagner den Obolus seines Kunden entgegen. Mit einem Kopfnicken verließ besagter Kunde erhobenen Hauptes das Friseurgeschäft an der Ecke Ritter- zur Hauptstraße in der Dresdner Neustadt.

Mit einer weiteren Verbeugung schloss der Barbier die Ladentür, denn das Wetter an diesem Montag, den 25. September 1882 war fern des obligatorischen Altweibersommers. Nieselregen, ungemütlicher Wind und gefühlte Temperaturen, die an den November erinnerten, ließen Wagner schnell die Tür schließen.

Statistisches Landesamt, Ritterstrasse 14, 1877 gegründet, Postkarte von 1925
Statistisches Landesamt, Ritterstrasse 14, 1877 gegründet, Postkarte von 1925

Drinnen wärmten sich drei seiner Stammkunden aus der Nachbarschaft an einem frisch gebrühten Tee und einem Hochprozentigen, den Alois Ludwig, der Sekretär des Königlichen Statistischen Landesamtes beigesteuert hatte. Seine Dienststelle befand sich nur ein paar Häuser weiter auf der Ritterstraße 14. Die ganze Umgebung rechts der Hauptstraße war in der Hand des Militärs.1 Die linke Seite der Ritterstraße mit den ungeraden Hausnummern beherbergte die Große Infanteriekaserne und weiter hinter lag das Militäroberbauamt. Hinter dem Statistischen Landesamt befand sich das Kadettenhaus der Sächsischen Artillerieschule.

„Schlechte Zeiten“, murmelte August Rettich, der Mehlhändler, in seinen Kaiser-Wilhelm-Bart. Das miese Wetter beeinflusste auch die Stimmung vom Sekretär und dem auch anwesenden Zigarrenhändler Gustav Mühlberg aus der Ritterstraße 4.

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Dem Gemurmel des August stimmten die anderen kopfnickend zu und nahmen jeweils einen Hieb aus der kreisenden Schnapspulle. Von draußen drang der Lärm der rumpelnden Pferdebahn herein.

Neustädter Markt um 1890
Neustädter Markt um 1890

Früher war alles besser

„Hört ihr das?“, warf August in die Runde. „Das nennt sich Fortschritt. „Man kommt damit zwar schneller zum Bahnhof, aber der Lärm ist nervend.

„Man möchte rein toll werden, wenn man an solchen Straßen wohnt. Wie hältst du das aus?“, fragte Alois den Barbier, „das Rasseln der Pferdebahnwagen, das Geläute an den Pferden, das Anschlagen der Glocke, das Pfeifen der Kondukteure2 und der Straßenwärter vom frühen Morgen bis zur Mitternacht?“

Franz Wagner zuckte nur mit den Schultern. „Was soll ich machen? Hab mich dran gewöhnt.“ Wieder Stille im Friseurladen und die Pulle Schnaps kreiste ein weiteres mal.

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„Diesen ganzen Fortschritt finde ich zum Arsch“, brach es wortgewaltig aus Gustav heraus. „Alles eilt rastlos durch die Gegend. Immer wieder gibt es neue Erfindungen. Wo bleiben da die Poesie und Romantik?“

Und der Mehlhändler stimmte ihm zu. „Hier könnt ihr es sogar schwarz auf weiß lesen. Im Calculator, in der 522. Ausgabe3 steht: ‚Es ist jetzt alles im Fluge, alles wird per Dampf betrieben, es ist ein ewiges Jagen unter die Menschheit gekommen, das durchaus nicht angetan ist, uns das Leben angenehm zu machen.’“

Barbier Franz nickte zustimmend und Alois bemerkte: „Ihr sollt nicht so gestrig reden, denn der Fortschritt bringt doch manche Verbesserung in das Alte und Verrottete zum Wohle der Menschheit und drängt unaufhaltsam vorwärts. So ist das nun mal.“

„Ha“, raunzte Gustav den Sekretär an. „Verbesserungen, ha, das ich nicht lache.“ Und nahm erst mal einen kräftigen Schluck. „Dieser sogenannte Fortschritt bringt so manches Ungemach über uns und reißt die Menschen aus ihren alten Gewohnheiten und ihrer sonst so ruhigen und gemütlichen Existenz.“

Ehe Alois Ludwig antworten konnte, gab August Rettich seinen Senf dazu. „Schaut euch nur mal die neuen Beleuchtungen in den Lokalen dort drüben an, dieses grelle Licht. Was bringt das? Nichts, außer Kopf- und Augenschmerzen und meistens eine steife, ungemütliche Stimmung.“

„Naja“, erwiderte der Barbier, „das elektrische Licht ist gar nicht so verkehrt. Da kommt es weniger vor, dass ich den Kunden beim Rasieren in den Hals schneide.“ Alle grinsten und die Flasche kreiste ein weiteres mal und ließ die Runde in Stille versinken.

Modernste Technik

Aber August Rettich gab nicht auf. „Das Schlimmste an Neuheiten ist aber das Telefon.“ Alle hoben die Köpfe und starrten wie elektrisiert zu August. „Diese Erfindung macht doch so manchen rechtschaffenden Familienvater erwerbslos. Wozu brauche ich noch Boten für schnelle Bestellungen in Hotels und Handwerk? Dadurch konnten sich Leute einen Verdienst erarbeiten, die für gewerbliche Beschäftigung oder Büroarbeiten nichts taugten. Und heute? Ein Anruf genügt.“

Der inzwischen reichlich mit Promille eingedeckte Gustav meinte, dass das mit dem Telefon gar nicht so schlecht sei. „Da spare ich mir den Gang zum Geburtstag meiner Schwiegermutter, indem ich ihr per Hör- und Sprechmuschel Ständchen, Toast und Hoch zuschicke.“

Ein weiteres Mal drehte die Schnapspulle ihre Runde und wurde endgültig geleert. Das Gerede über den Fortschritt, gepaart mit Freund Alkohol, hatte die Friseurrunde endgültig in eine lethargische Stimmung versinken lassen. Ein kalter Luftschwall brachte den Männern eine kleine Frischluftkur. Mit diesem Schwall fegte die Frau Barbier herein, stemmte die Fäuste in ihre ausladenden Hüften, kniff die Augen zusammen und jagte die versoffene Truppe aus dem Laden. Der noch nicht ganz so zugedröhnte Sekretär des Statistischen Landesamtes nahm den Calculator mit und las schmunzelnd das Gedicht von der Zukunft der Telefonie.

Das Telefon ist erfunden; es ist eine schöne Sach‘! Bald ziehen sich Tausend von Drähten dort oben von Dach zu Dach. Dann braucht man nicht mehr zur Börse, man hört die Kurse zu Haus, Im Bett noch hört man die Predigt und braucht nicht zum Zimmer hinaus. Die Oper hört man gemütlich daheim auf dem Sofa dann an, Und will man Konzerte hören, zuhause man bleiben kann. Das Kind braucht nicht mehr zur Schule. Das Telefon bringt ihm schnell Die weisen Worte des Lehrers und nur den Schall von der Schell. Es werden auch nicht mehr gedruckt, die Zeitungen groß und bunt. Man braucht nicht mehr zu annoncieren, das Telefon macht es ja kund. Das ist eine schöne Erfindung, nur einen Nachteil sie hat: Wenn meine Frau wacker mich schimpfet, dann weiß es die ganze Stadt.
Das Telefon ist erfunden; es ist eine schöne Sach‘!
Bald ziehen sich Tausend von Drähten dort oben von Dach zu Dach.
Dann braucht man nicht mehr zur Börse, man hört die Kurse zu Haus,
Im Bett noch hört man die Predigt und braucht nicht zum Zimmer hinaus.
Die Oper hört man gemütlich daheim auf dem Sofa dann an,
Und will man Konzerte hören, zuhause man bleiben kann.
Das Kind braucht nicht mehr zur Schule. Das Telefon bringt ihm schnell
Die weisen Worte des Lehrers und nur den Schall von der Schell.
Es werden auch nicht mehr gedruckt, die Zeitungen groß und bunt.
Man braucht nicht mehr zu annoncieren, das Telefon macht es ja kund.
Das ist eine schöne Erfindung, nur einen Nachteil sie hat:
Wenn meine Frau wacker mich schimpfet, dann weiß es die ganze Stadt.
Erschienen in der Zeitschrift „Der Calculator“ Nr. 521 vom Oktober 1882

Anmerkungen des Autors

1 Damals war die Gegend rechts der Hauptstraße (vom Neustädter Markt ausgesehen) komplett in militärischer Hand. Nach und nach wurden diese in die 1877 gegründete militärische Albertstadt untergebracht.
2 So nannte man die Schaffner der Pferdebahnen.
3 Zeitschrift „Der Calculator“ Nr. 522 vom Oktober 1882


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.