Energisch klopfte es in der Rähnitzgasse 25 an der linken Tür im dritten Stock. Als aus der Wohnung kein Zeichen der Anwesenheit von Personen erkennbar war, gab Inspektor Wessling seinen drei Wachtmeistern ein stummes Zeichen. Mit Wucht sprangen die beiden kräftigsten seitwärts gegen die Tür, die fast widerstandslos nach innen aufsprang und die beiden Polizisten zu Boden warf. Mit schmerzverzerrten Gesichtern rieben sich Kolzyk und Macher den rechten bzw. linken Arm. Der Inspektor bedachte die beiden mit finsterem Blick.
„Habt euch nicht so mimosenhaft. Euch fehlt wohl die tägliche Schleifstunde? Wohnung durchsuchen! Abmarsch!” Der etwas schmächtige Meerbold ging den anderen nach. Die Wohnung war leer.
Friedrich August Schreiber, Mieter in selbiger Behausung, hatte es an diesem Morgen des ersten Novembertages 1862 beim Wasserlassen gespürt: Nichts Gutes stand bevor. Durch vergangene schmerzliche Unachtsamkeiten lernte er es, auf sein Bauchgefühl zu hören. Schnell verstaute er Geldbörse und Papiere in seiner Jacke und scheuchte die drei Mädels hinunter in den Garten und über den Innenhof des Nachbarn raus auf die Königsstraße.
Auf der Rähnitzgasse
fuhr bereits die Kutsche vom Polizeirevier der Dresdner Neustadt vor. Eiligen Schrittes nahm Schreiber denselben Weg wie seine Damen. Diese begaben sich lachend und schnattern zum für derartige Fälle geplanten Zufluchtsort. Hier und da zwinkerten sie dem einen und anderen Herrn zu, welche dann meist verstohlen den Kopf senkten.
Inspector Wessling ließ seinen inneren Choleriker zu unbeschreiblicher Größe erblühen und machte seine Wachtmeister platt. Aber so schnell, wie er auf der Eiche war, so schnell hatte ihn der Boden der Tatsachen wieder. Mit einer energischen Handbewegung komplimentierte er das Wachtmeister-Terzett zur Kutsche und diese dann in Richtung des Neustädter Rathauses. Kurz davor entstieg er dem Gefährt und begab sich ins Gasthaus Stadt Görlitz an der Ecke zur Heinrichstraße. Dort traf er seinen Informanten, der ihm das Außenquartier der Höhle der Unzucht verriet.
Unter großem Hallo
trafen die starke Liesel, die fesche Luzie und die opulente Elisabeth mit Künstlernamen Flutschelse im Polnischen Brauhaus am Kohlmarkt ein. Kurz darauf gesellte sich Friedrich August, der Lude1, zu ihnen. „Noch mal Glück gehabt“, rief er in die Runde. „Eine Runde Champagner für uns vier. Das haben wir uns redlich verdient.”
Derweil braute sich draußen ein Unwetter zusammen. Je fünf Wachtmeister besetzten unauffällig den Vorder- und Hintereingang des Lokals. Dann ertönte ein kurzer, aber schriller Pfiff und der Sturm auf die Unzuchtsausweichhöhle begann. Im Nuh war die Viererbande umzingelt.
Die Flutschelse verschluckte sich fast vor Schreck. Die beiden anderen Weibsbilder schrien auf. Nur der Lude ergab sich ins Unvermeidliche. Zwei der noch jungen Wachtmeister erröteten beim Anblick der fast freiliegenden und sich ob der Aufregung bebenden Busen, was von den Damen wohl bemerkt wurde und seltsamerweise zur Beruhigung der Situation beitrug.
Zwei Wochen später
landeten alle vier vor Gericht in einer Sitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie die Dresdner Nachrichten im November 1862 schrieben. Nur unter größtem Protest und mit Polizeieinsatz konnte der Amtsrichter diesen Ausschluss durchsetzen. Das Amouröse und Verruchte zog das Publikum stets an. Es sei schließlich ein Verbrechen nach Paragraph 355 des Strafgesetzbuches für das Königreich Sachsen von 1855. Und das schriebe aus moralischen und sittlichen Gründen den Ausschluss der Öffentlichkeit vor, argumentierte der Amtsrichter.
Der Paragraph „handelt von der Zuführung von Weibspersonen zur Unzucht und Gestatten des unzüchtigen Gewerbes in der eigenen Wohnung”, hieß es in den Dresdner Nachrichten. Hauptangeklagter war Friedrich August Schreiber, genannt der Lude1. Von ihm wollte der Amtsrichter wissen, „welche der anwesenden schamlosen Weibsbilder er in Diensten hatte und wer die sogenannten Kunden seien.”
Natürlich keine der hier anwesenden ehrbaren Damen, die er angeblich erst im Polnischen Brauhaus kennengelernt habe, beantwortete Schreiber die Frage. Und zu dem könne er sich nicht an Namen, geschweige denn an Gesichter oder Berufe und Herkunft irgendwelcher Herren erinnern. Und die drei Damen auf der Anklagebank senkten pflichtbewusst und sittsam die Blicke.
Hier war Friedrich August im Vorteil, denn Inspektor Wessling konnte bei seiner Razzia niemanden erwischen. Er hatte nur zwei Zeugen, einen verbiesterten Mieter im Haus des Schreibers, der mangels fehlendem Kleingeld bei den Damen nicht zum Zuge kam und eine nicht mehr ganz frische Jungfer vom Haus gegenüber, die über die Ein- und Austritte der Herren detailliert Buch führte.
Das reichte dem Amtsrichter aus, den Luden zu sechs Monaten Arbeitshaus zu verdonnern. Die drei Damen kamen mittels Ermahnung des Richters für einen sittsamen und gottgefälligen Lebenswandel frei.
Anmerkungen des Autors
1 Lude ist eine andere Bezeichnung für das umgangssprachliche „Zuhälter“ (Quelle: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache)
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.