August Prée schlug den Mantelkragen hoch und hielt den Schirm fest gegen die Böen und kräftigen Schauer an diesem recht unfreundlichen 7. Oktober 1902. Sein Ziel war nur gute 200 Meter entfernt.
Daher ging er zu Fuß von seiner Villa auf der Dresdner Glacisstraße 1 über den Kurfürstenplatz1 die Wasserstraße2 entlang zu deren Nummer 7, der Höheren Töchterschule3. Diese sollte in wenigen Minuten eingeweiht werden.
Angekommen, betrachtete er eingehend den neuen Prachtbau des Architekten Edmund Bräter. Imposant passte er mit seinem Türmchen in der Mitte zu den anderen neuen Bauten am Neustädter Elbufer, wie dem Finanzministerium und dem Sitz der Königlichen Landesregierung. Dresden zeigte hier seinen erworbenen Reichtum und machte damit die Stadt noch berühmter.
Bräters Spuren in Dresden
Und der Dresdner Architekt hatte einige Fußstapfen in der Residenz hinterlassen, wie die Neustädter Markthalle, das Krankenhaus Johannstadt, den Ausstellungspalast am Straßburger Platz. Und federführend werde er sich demnächst auch noch am Güntzbad auf dem Elbberg und am neuen Rathaus beteiligen.
Prée selbst zählte zu den bekanntesten und wohlhabendsten Unternehmern in Dresden. Seine Firma produzierte spezielle Fußbodenbeläge, Dachschindeln und Dachpappe. Später erfand er Bitumen-Dachschindeln, die gegen Flugfeuer und strahlende Wärme widerstandsfähig waren und unter dem Markennamen PREOLIT in der ab 1917 in Coswig errichteten Chemischen und Teerfabrik produziert wurden.
Gerade stieg er die zwei Stufen zum Eingang der Schule hoch, als sich die Tür öffnete und der Schuldirektor Dr. Döhler ihn begrüßte und in die Aula geleitete. Dresdens Oberbürgermeister Dr. Beutler nahm die Übergabe an die Schulleitung dieser städtischen Einrichtung vor und richtete einige Worte an die anwesenden jungen Mädchen. Sie sollten nicht glauben, dass sie nach Beendigung der Schulzeit genug für ihre geistige Bildung getan hätten, sondern sich die Erkenntnis einverleiben, „wie wenig ihr Wissen für das Leben genüge und wie nötig es sei, dass sie jetzt erst recht zu lernen anfingen.“4
Dann wetterte er gegen die bösen Versuchungen und mahnte: „Die Schule ziele nicht darauf ab, Frauenrechtlerinnen5 und Blaustrümpfe6 zu erziehen, sondern Frauen, die in ihrem natürlichen Berufe tüchtig und stark genug seien, auch die Kämpfe des Lebens zu bestehen.“4
Und dann ging er auf die Ansichten der Sozialdemokraten ein, vor deren sozialen Kämpfen er die jungen Mädchen warnte und hoffte, dass die Auseinandersetzungen im christlichen Sinne friedlich bleiben mögen. „Diese Aufgabe falle vor allem der Frau zu und die müsse ihr schon in frühester Jugend klar gemacht werden. Die Frau müsse erkennen, dass höherer Stand und Reichtum verpflichten und dass Gott einst Rechenschaft dafür fordern werde, ob sie die ihnen anvertrauten Güter richtig verwertet habe.“4
Das weibliche Potenzial
Dem hatte auch August Prée nichts hinzuzufügen. Er kannte sich mit der Arbeitswelt und den Auseinandersetzungen mit Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und den Suffragetten5 aus. Aus rein wirtschaftlichen Gründen sah er in der Bildung der Mädchen und Frauen ein großes unerschlossenes Potenzial für den Fortschritt. Deshalb spendete er einen großen Beitrag für die technische Ausstattung der Töchterschule.
Der Direktor mahnte an, dass es „in unserer Zeit mit ihren vielen wirtschaftlichen Katastrophen geboten sei, den Töchtern eine Ausbildung zu geben, die sie befähigt, wenn es Not tut, den Kampf um das Dasein gewappnet aufzunehmen. So wollten die höheren Mädchenschulen den Bildungsstätten für Knaben zwar nicht für gleichartig, wohl aber für gleichwertig erachtet sein.“4
Das hörte Prée aus Unternehmersicht mit gemischten Gefühlen. Für ihn hatte die weibliche Hälfte des Volkes mehr Potenzial als viele dachten. Aber heute war nicht der Tag des Streites, sondern der Freude. Im Anschluss weihte man das Töchterpensionat gegenüber auf der Weintraubenstraße 4 ein. Und Direktor Dr. Döhler lud die Oberen der Stadt und die Honoratioren zu einem kleinen Imbiss in den Speiseraum des Pensionats ein, was bei diesem Schmuddelwetter gern angenommen wurde.
Anmerkungen des Autors
1 heute: Rosa-Luxemburg-Platz
2 heute Carusufer
3 1930 wurde die Schule mit mit dem 1915 gegründeten Städtischen Mädchengymnasium an der Weintraubenstraße 3 vereinigt. Heuteist hier das Romain-Rolland-Gymnasium.
4 Dresdner Neueste Nachrichten vom 9. Oktober 1902
5 Suffragetten-Bewegung, die aus England kommend für das Wahlrecht der Frauen eintrat.
6 Damit bezeichnete man im 18., 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert besonders gebildete Frauen, die ihre vermeintlich typischen weiblichen Eigenschaften vernachlässigten und nach Emanzipation strebten. Der Name „Blaustrumpf“ kam ist 18. Jh. in England auf und entstand zufällig durch einen modischen Fauxpas. Der Name wurde später zu einem Schimpfwort für intelligente Frauen. Blaustrumpf-Frauen waren in Westdeutschland noch bis in die 60er Jahre als „unelegant, muffig, ohne Charme, nur fachlich ansprechbar“ betitelt.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.