Der Erste Weltkrieg forderte Millionen Tote, Hunger, Zerstörung, viel Leid und Elend. Die Unruhen setzten sich in ganz Deutschland fort. Die katastrophale Versorgungslage führte allerorts zu Protesten, so auch in Dresden am Goldenen Reiter.
Der Kandidat Dr. Georg Grandauer erlangte eine Mehrheit und wurde wieder zum Ministerpräsidenten gewählt, weitere sieben Mitglieder wurden Minister, so Gustav Neuring für das Militärwesen. Der sächsische Kriegsminister Gustav Neuring hatte seinen Sitz im Blockhaus am Neustädter Markt. Der Neue im Amt wurde aufgefordert, im „Hohen Haus“ Stellung zu illegalen Waffendepots zu nehmen.
Er erklärte: „Wir haben die Kommandos ersucht, unbedingt dafür zu sorgen, wilde Waffendepots festzustellen, um sie auszuheben. Wir setzen eine namhafte Belohnung für Hinweise ein.“
Verhasster Mann
Dieser Auftritt des Sozialdemokraten, der von seinen Genossen mit Bravo-Rufen kommentiert wurde, sollte seine letzte öffentliche Rede sein. Der erst 39-jährige Neuring, ehemals Werftarbeiter, Unteroffizier und Beamter im Fabrikarbeiterverband, galt vor allem bei den radikalen Kräften als der meist gehasste Mann. Gustav Neuring handelte engagiert und glaubte an den guten Willen des Volkes. Arbeitseifer und Energie entfachten schnelle Entscheidungen, um ein neues, stabiles System aufzubauen. Er stand mit seiner neuen Aufgabe vor riesigen Herausforderungen und hatte zweifellos das umfangreichste Amt. Die Mitarbeiter schätzten Neurings Eifer, vereinzelte Warnungen verwehten im Wind und wurden nicht allzu ernst genommen.
Weiterhin raubten banale Angelegenheiten kostbare Zeit, sich den wichtigen Dingen eingehend zu widmen. Erreichte Kompromisse mit dem Reichsministerium in Berlin fanden kaum Würdigung.
Geschürt von der allgemeinen Hetze weigerten sich Ärzte, kranke Personen zu behandeln, Bäcker verkauften kein Brot, Kriegsrenten wurden nicht ausgezahlt. Zu allem Überdruss kam aus Berlin die Nachricht: Kriegsversehrten sollen die Unterstützungen ab sofort um ein Drittel gekürzt werden. Zu Neurings Aufgaben gehörte deren Durchsetzung in Sachsen. Der Minister wurde persönlich verunglimpft, so würde der verheiratete Neuring besonders nachts intensiv arbeiten. Da besuche der dunkelblonde Mann mit den blauen Augen diverse Bordelle in der Stadt und verkehre mit etlichen einschlägigen Huren.
Am 12. April 1919 formierten sich hunderte Kriegsversehrten auf dem Dresdner Theaterplatz und protestierten gegen die Kürzung des Wehrsoldes. Viele der Demonstranten trugen offen ihre erbeuteten Waffen. Die zweite Welle der gerade grassierenden spanischen Grippe fand wenig Beachtung, denn die Bürger selbst nahmen die Epidemie nicht allzu ernst. Bereits ein halbes Jahr zuvor verbot die Stadt Dresden alle öffentlichen Veranstaltungen, Konzerte, Theater und Lichtbildvorführungen. Das Versammlungsrecht blieb davon allerdings unberührt.
Neuring muss weg!
In der Presse dominierte trotzdem das Nachkriegsgeschehen und der politische Umbruch. Die Leute kämpften in dieser Periode ums nackte Überleben, koste es, was es wolle. In Dresden brüllten die aufgeregten Menschen hasserfüllt: „Neuring muss weg, Neuring muss weg! Neuring ist ein Lump!“
Die Kundgebung wandelte sich im Laufe des Tages immer mehr von relativ friedlichen Leuten zu einer aufgewühlten Masse. Der Zug formierte sich über die Augustusbrücke und belagerte das Kriegsministerium am Neustädter Markt. Mehrere Männer brachten sich mit den erbeuteten Maschinengewehren am Goldenen Reiter, dem Denkmal August des Starken, in Stellung und beschossen das Blockhaus, indem zu jener Zeit das Kriegsministerium residierte. „Bahn frei, Straße frei!“ – der Ruf aus den Berliner Märztagen ertönte in die dicht gedrängte Menge.
Eine Abordnung der Demonstranten stürmte zu Minister Neuring, doch er verordnete Hausverbot und lehnte die Forderungen ab. Die herbeigeeilten Schützen des Sicherheitsdienstes wurden kurzerhand entwaffnet, die erbeuteten Gewehre und Munitionskästen wahllos verteilt. Schließlich brachen die Anführer die Türen zum Kriegsministerium auf, stürmten in das Haus, warfen Akten aus dem Fenster, verwüsteten die Räume. Sämtliche Beamte mussten unter arger Beschimpfung sofort ihren Arbeitsplatz verlassen.
Neuring hatte sich im dritten Stock verbarrikadiert und wurde aus dem Versteck gezerrt und mit Fäusten attackiert. Inzwischen feuerten Demonstranten aus Maschinengewehren mehrere Schüsse auf das Kriegsministerium, Fensterscheiben zerbarsten, Sandstein bröckelte vom Haus.
Die Unruhen nahmen einen bedrohlichen Charakter an. Die herbeigeeilten Regierungstruppen schritten unverständlicherweise nicht ein. Es war für den Minister keine Sicherheit gegeben.
Kriegsverletzte, einarmige und einbeinige wedelten mit weißen Tüchern, wendeten die sogenannte „Knüppeltaktik“ an. Das Bataillon wagte nicht, auf die verkrüppelten Kameraden zu schießen und gab unter Prügelattacken sogar die Waffen ab. Seltsam war, wie später festgestellt wurde, dass unter den Kriegsverletzten mehrere Personen in Zivilkleidung hetzten und aufputschten, die mit den Kriegsopfern nichts zu tun hatten.
Der Brückensturz von Dresden
Es war Sonnabend, vier Uhr nachmittags. Das Trommelfeuer am Neustädter Markt währte bereits eine Viertelstunde, doch plötzlich war eine Feuerpause. Männer schleppten Gustav Neuring unter dem Tumult der Massen und mit Gewalt aus dem ungeschützten Blockhaus heraus, schlürften ihn auf die Augustusbrücke. Seine Worte über die Rücknahme der Lohnkürzungen verhallte im Niederschreien. Der Minister wurde hoch auf einen Brückenpfeiler gedrängt und die schaulustige Menge schrie: „Ins Wasser mit dem Hund! Hinein mit ihm!“ Mehrere Lockspitzel und Provokateure heizten die Stimmung kräftig an. Die Ereignisse hatten den Anschein eines gezielten Angriffs.
Der Minister wurde angespuckt, gedemütigt, geschlagen, mit Gegenständen beworfen. Neuring klammerte sich an die Brüstung, seine runde Hornbrille rutschte vom Gesicht. Ein Zivilist rief der Masse zu, die Forderungen der Kriegsbeschädigten nicht mit Mord zu besudeln. Leute schrien: „Pass auf, sonst landest du im Strom!“ Neuring musste indes weitere Handgreiflichkeiten und Schimpfkanonaden erleiden. Der ein Meter siebzig große Mann verlor das Gleichgewicht und stürzte in die schäumende Elbe. Die Menge johlte. Neuring vermochte trotz der Verletzungen schwimmend zum Ufer zu gelangen, sich zu retten. Weitere hässliche Wortfetzen hallten durch den Nachmittag: „Bleib im Wasser, Hurenficker!“
Tödliche Schüsse
Mehrere Gewehrschüsse fielen, ein Schuss traf den Minister. Neuring blutete stark am Kopf und versank vor Hunderter Augen in den Fluten unter. Der kräftige Mann war tödlich getroffen worden und der Strom trieb den Leichnam fort. Vollendet war der Lynchmord.
Indessen tobte das Feuergefecht auf dem Platz vehement weiter. Das Blockhaus wurde beschossen und demoliert. Es herrschten Gewalt, Anarchie, Chaos ohnegleichen. Außer dem toten Kriegsminister starben zwei Personen. beziehungsweise wurden zehn schwer verletzt. Die Regierung erklärte später: „Die Opfer seien vielfach Unbeteiligte an den Ausschreitungen gewesen!“ Keiner hatte einen konkreten Durchblick, denn schon wieder setzte eine wilde Schießerei ein. Bahnen konnten nicht mehr fahren, denn die Straßenbahndrähte hingen herunter. Die Nachricht von der Ermordung Neurings verbreitete sich rasend schnell, schlug wie ein Blitz ein.
Belagerungszustand
Die Kriegsversehrten drängten sich gegen die Sicherheitstruppen, die ihrer Entwaffnung keinen Widerstand entgegensetzten. Das Militär war gezwungen, ihre Soldaten in Stellung zu bringen und die sächsische Regierung verhängte den Belagerungszustand für Dresden und schließlich für Sachsen, um die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen. Der militärische Oberbefehlshaber proklamierte für die Zeit des Belagerungszustandes das Standrecht, das hieß Hochverrat, Landesverrat, Mord, Totschlag, Brandstiftung, Meuterei, Plünderung, Raub, Landesfriedensbruch, Erpressung … werden mit besonders hohen Strafen geahndet.Weiterhin waren die berechtigten Behörden befugt, Hausdurchsuchungen vorzunehmen, die Polizeistunde festzusetzen, Versammlungen unter freien Himmel zu verbieten. Insgesamt waren zwölf Verordnungen festgelegt.
Der Polizei oblag es, die Leiche des Ministers zu bergen. In einer Anzeige stand: „Neuring ist von der Friedrich-August-Brücke aus von der Volksmenge in die Elbe gestoßen und hierauf ist nach ihm geschossen worden. Er ist in den Fluten verschwunden und noch nicht wieder gefunden worden.“ Ein Foto und eine Personenbeschreibung Neurings folgten der Anzeige.
Einen Tag später versuchte die Regierung, die Geschehnisse zu rekonstruieren. Neuring galt als schuldloses Opfer einer fanatischen Stimmung, die durch verbrecherische Elemente bei einem Teil der Demonstranten erzeugt und geschürt worden sei.
Die Leiche wurde erst Wochen später gefunden
Trotz Belagerungszustand und ungemütlichem Aprilregen war Dresdens Stadtbild von Leben geprägt. Viele Neugierige zogen zum Blockhaus und betrachteten die Verwüstungen des Gebäudes.
Die Polizei begann mit der Verhaftung der Rädelsführer. Ihr gelang es nicht, die Leiche Gustav Neurings trotz intensiven Suchens in der Elbe und am Ufer zu finden.
Die Presse meldete täglich neue Sensationsnachrichten. Der Fall Neuring explodierte in Deutschland zum Gesprächsthema Nummer eins. Die Ermordung des Kriegsministers schien ein Wendepunkt in der politischen Geschichte Sachsens zu sein.
Endlich, am 8. Mai 1919, fast vier Wochen nach der Bluttat von Dresden, wurde die Leiche Neurings aus der Elbe geborgen.
Die Leiche wurde eingesargt und per Lastauto in das Landgericht Dresden gebracht. Sie bestätigte die Vermutungen: Tod durch Kopfschuss. Die Aufbahrung des Toten fand drei Tage später im Blockhaus, dem Kriegsministerium, statt. Eine Ehrenkompanie marschierte dann ins Krematorium Tolkewitz, um die Einäscherung zu vollziehen.
Die Staatsanwaltschaft setzte für Hinweise 10.000 Mark für die am Mord beteiligten Personen aus. Sofort meldeten sich Zeugen, letztendlich vierhundert. Ein Zeuge nach dem anderen wurde vernommen.
Es war schwer, aus dem Gewirr von Lügen, zutreffenden Schilderungen und vagen Beobachtungen die Wahrheit herauszufinden. Die Suche nach den Tätern und ihren Hintermännern nahm die volle Aufmerksamkeit in Anspruch.
Milde gegenüber den Kriegsverletzten
Das Gericht tendierte immer mehr dazu, die unmittelbar für den Mord Verantwortlichen von denen abzutrennen, die eine moralisch üble, doch kaum eine juristische Rolle haben. So musste der angebliche Anführer Frenzel nicht auf die Anklagebank, ebenso nicht die Spitzel, die im Auftrag der Regierung tätig waren. Gegenüber den Kriegsverletzten wollte man Milde walten lassen. Zahlreiche Untersuchungshäftlinge hatten keinen politischen Hintergrund, sondern waren Mitläufer.
Schließlich wurden nur elf Personen angeklagt. Am 21. Juli 1919 begann vor dem Schwurgericht Dresden die Hauptverhandlung. Zehn prominente Anwälte verteidigten die Männer. Voraussehbar war angesichts der mickrigen Beweislage und der widersprüchlichen Zeugenaussagen, dass der Prozess mit einem Spektakel enden würde. Fünf Männer wurden als Polizeispitzel entlarvt und freigesprochen, so dass nur noch sechs Angeklagte übrig blieben. Keiner der Angeklagten gab zu, unmittelbar an der Ermordung beteiligt gewesen zu sein. „Ich war nicht dabei, ich kann mich nicht entsinnen, ich kann dazu nichts Bestimmtes sagen..,“ lauteten die Antworten vor dem Gericht.
Manche widerriefen ihr Geständnis, andere logen offensichtlich. Die Verteidiger, aber auch die Geschworenen versuchten, Schuldfragen ihrer Klienten abzuweisen beziehungsweise zu vermeiden.
Die Geschworenen urteilten demzufolge recht milde. Die Anklage lautete nicht auf Mord oder Totschlag. Die Angeklagten erhielten wegen Raufhandelns, eine Umschreibung für Schlägerei, Haftstrafen zwischen eineinhalb und drei Jahren, sowie fünf Jahre Ehrverlust.
Die eigentlich Schuldigen blieben straffrei.
Historische Kriminalfälle in Sachsen
- Der vorliegende Text ist eine gekürzte Version des Beitrags aus dem Buch „Historische Kriminalfälle aus Sachsen“ von Dietmar Sehn. Es ist im Suttonverlag erschienen, ISBN: 9783963033001.
Wikipedia sagt:
Der Erste Weltkrieg wurde von 1914 bis 1918 in Europa, in Vorderasien, in Afrika, Ostasien und auf den Ozeanen geführt. Etwa 17 Millionen Menschen verloren durch ihn ihr Leben.
9vs17
Danke für den Hinweis.
Ein interessanter Artikel.
Danke sehr dafür.
Das schlimmste Verbrechen am Goldenen Reiter sieht man, wenn man den Hintergrund auf der Postkarte mit dem Zustand von heute vergleicht. Wirklich zum Heulen.
Echt, das findest du schlimmer als das jemand ermordet wird?