Sattlermeister Paul Berina aus der Königsbrücker Straße 51 zog sich seine dicke Joppe über, band den Wollschal um, setzte seinen Hut auf und eilte aus dem Haus. Schnellen Schrittes, es war bereits eine halbe Stunde vor 12 Uhr mittags, begab er sich zur Kreuzung Bischofsweg der Dresdner Neustadt. Ziel war das Kaiserliche Postamt 12 neben dem Geschäft vom Kaufmann Ziegenbalg. Als er aus der Haustür nach links abbog, blieb er abrupt stehen.
Der Blick war frei bis zur Kreuzung, denn der Platz, wo später einmal die Schauburg stehen sollte, noch unbebaut. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung versammelte sich eine riesige Traube von Menschen, die alle in das kleine Postamt wollten1.
Der gefragteste Poststempel der Stadt
Der Sattlermeister fürchtete, dass es wohl nichts werden würde mit dem Poststempel „12.12.12“. Seit 1901 sammelte er die Poststempel dieser besonderen Daten. Dabei wurden es mit den Jahren immer mehr Interessenten mit der gleichen Idee. Schon im Jahr zuvor, am 11. November 1911, war der Andrang groß. Doch dieses Jahr 1912 überbot alles bisher Dagewesene. Zwei große Menschenströme bevölkerten die Kreuzung, einmal den Bischofsweg in Richtung Bischofsplatz lang und der andere verlief die Königsbrücker stadtauswärts. Mehrere Polizisten versuchten, der Masse Herr zu werden. Aber die Menschen schoben, knufften und zwickten sich gegenseitig, immer in der Hoffnung, dass der so Drangsalierte aufgäbe.
Flüche und Schimpfkanonaden übertönten den Lärm der Straße. Findige fliegende Händler verkauften billig gemachte Postkarten mit naiven Bildchen darauf zu überteuerten Preisen, die ihnen aber trotzdem aus den Händen gerissen wurden. An einer Stelle entstand sogar eine „Bücklingsreihe“ von vielleicht zwanzig Leuten. Hier nutzte man den Rücken des Vordermanns, um Adresse und Text drauf zuschreiben. Die Adresse war natürlich die eigene und Postbote war man demnach auch selbst. Ein gutes Geschäft für die Reichspost.
Der Verkehr brach zusammen
Sattlermeister Berina rannte über die Kreuzung ans Ende der vermeintlich kürzeren Schlange die Königsbrücker hoch. Die Straßenbahnen aus allen vier Richtungen waren überfüllt. An der Haltestelle Bischofsweg strömten die Menschen auf die Straßen. Der Auto- und Fuhrwerksverkehr kam ins Stocken. Die wenigen Polizisten beherrschten die Lage nicht mehr und verzweifelten an ihrer Machtlosigkeit.
Der Countdown läuft
Postmeister Kroker schaute stoisch, ganz Amtsperson den Zwicker auf der Nasenspitze, auf seine Taschenuhr. Als der große Zeiger die 12 erreichte, gab er seinen Bediensteten an den beiden Schaltern seines kleinen Amtes per Glocke Bescheid und die 12-Uhr-Stempel traten geräuschvoll ihre Dienste an. Zusätzlich öffnete der Postmeister noch den Paketschalter und stellte drei Tische auf. Für genau 59 Minuten wurde mit dem Stempelhammer im Akkord auf die Briefmarken der Postkarten geklopft, nur unterbrochen von der Entgegennahme der Gebühren. Wer seine Postkarte nicht rechtzeitig ausgefüllt hatte, wurde von den Nachfolgenden rigoros zur Seite gedrängt und nach draußen abgeschoben.
Die Dresdner Neuesten Nachrichten schrieben am nächsten Tag2 undramatisch: „… rings um das Haus standen die Leute dicht gedrängt und schrieben an den Wänden die Karten, die nun Glanzstücke in jeder Briefmarkensammlung werden sollen. Auch hier hatte die Post besondere Maßnahmen getroffen, um die Riesenarbeit glatt zu bewältigen und niemandem die Freude zu verderben. Und die Freude ist aber besonders groß, weil ja die Zwölf so eine angenehme, fast heilige Zahl ist.“
Und Sattlermeister Paul Berina? Der war am Ende hoch erleichtert und überglücklich, weil er noch einen Stempel ergattert hatte. Nun war sein heiliges Dutzend voll. Denn auf ein weiteres 12.12.12 müsste er noch 100 Jahre warten. Und wer weiß schon, was das dann für Zeiten sein werden.
Anmerkungen des Autors
1 das Gebäude gibt es heute nicht mehr, stattdessen steht an der Stelle einer der ersten Nachwendebauten der Neustadt mit Apotheke und der Fahrradladen „Schwarzer“.
2 siehe Dresdner Neueste Nachrichten vom 13. Dezember 1912
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.