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Mein Onkel Raimund

Ich erinnere mich hin und wieder an meinen Onkel Raimund vom Bischofsweg. Raimund war ein heiterer, schlacksig gewachsener Mann, der Schalk saß ihm im Nacken. Er plauderte gern und gab oft einen schlüpfrigen oder politischen Witz zum Besten. Nur zu Weihnachten hatte er eine Sonderrolle.

Ähnlichkeiten zu Onkel Raimund sind höchstens zufällig.
Ähnlichkeiten zu Onkel Raimund sind höchstens zufällig.

Zu jeder Familienfeier oder sonstigen Begebenheit, und davon gab es mehrere im Monat, hörte ich die Geschichte vom Lehrer, der den Schüler Raimund fragte: „Was ist denn dein Vater von Beruf?“ Klein-Raimund gab keck zur Antwort: „Lehrer – Briefkastenleerer.“ Und Raimund berichtete vom Schlag mit dem Rohrstock über seine Finger.

Raimund flunkerte auch ein bisschen und flocht manches unklare Garn. Doch wer ihn kannte, kannte bald seine Späße Nur wir Kinder staunten über seine Abenteuer. Nicht gelogen und voller Inbrunst schwärmte er vom Bandenkrieg der Jungen vom Bischofsweg und der Königsbrücker Straße. Ein Spion beobachtete jeweils die andere Gruppe und auf ein Zeichen, meist einen Pfiff, stürmten die Burschen der beiden Straßen oft bewaffnet mit Stöcken und Knüppeln los. Entweder hatten die Jungs ein Versteck in den Häusern und Hinterhäusern ergattert oder knüppelten munter drauf los. Mancher Straßenjunge verstauchte sich nach diesem Kampf ein Bein oder hatte eine blutige Nase. Rechtzeitig hörte die Rempelei auf. Wer wollte schon ein blaues Auge oder eine andere Verletzung!

Die Polizei kam bei diesen Bandenkriegen nicht zum Einsatz. Messer gehörten nicht zu den Angriffswaffen. Kaum hatte die Auseinandersetzung angefangen, war sie auch schon zu Ende. „Aber das nächste Mal könnt ihr freuen“, drohte die eine Gruppe, die andere nicht minder. Sie schimpften: „Nächstes Mal werden wir es euch zeigen, ihr Haderlumpen!“

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Die Eltern schimpften maßlos über diese Attacken der Rabauken, denn die Rauferei ging nicht ganz sauber aus. Die Sachen waren verschmutzt oder die Hose gar zerfetzt. Doch alle Ermahnungen halfen wenig. Einige Tage später startete der nächste Bandenkrieg, meist begann er an der Kreuzung, in Höhe des Filmtheaters Schauburg oder am damaligen Großlokal Deutsche Reichskrone. Und wieder verlief die Kempelei mit einigen blauen Flecken.

Reichskrone, Postkarte von 1914
Reichskrone, Postkarte von 1914

Es kann durchaus sein, dass der spätere Schriftsteller Erich Kästner, der in der Königsbrücker Straße 66 geboren wurde und aufwuchs, auch einmal an solch einem abenteuerlichen Spiel teilgenommen hatte. In seinen Kindheitserinnerungen: „Als ich ein kleiner Junge war“ hat der Autor diesbezügliche Angaben nicht gemacht. Kästner war immerhin ein strebsamer Schüler, der die Bürgerschule auf der Tieckstraße und das bekannte Fletcher-Gymnasium besuchte. Solche Jungs tobten kaum in der Gegend umher. Ansonsten pflegte Kästner, einen Bummel zum Albertplatz, zu dem reichen Pferdehändler Augustin, seinem Onkel. Ein Lieblingsort war dann die Gartenmauer und er schaute auf das lebhafte Treiben der Menschen und den Straßenbahnverkehr.

Nebenjob an der Flimmerkiste

Apropos Albertplatz. Dort hatte mein Onkel einen Nebenjob. Der Schaffner bediente ab den Nachmittag die Flimmerkiste im Hochhaus der Verkehrsbetriebe. Eine riesige Traube von Menschen bildete sich zu sportlichen Höhepunkten und abends zum Krimi. Onkel Raimund knipste pünktlich nach dem Film den kleinen Apparat aus und das Sehvergnügen war für diesen Tag erst einmal zu Ende.

Regelmäßig trafen sich die Sportfans und Filmfreunde, ein treues Stammpublikum. Manchmal wurde über das Programm sogar geklatscht, das kam allerdings selten vor. Mitunter vertrat seine Tochter ihren Vater und verdiente sich ein kleines Taschengeld dazu. Die Einnahmequelle muss sich gelohnt haben, denn Raimund und Helga betrieben den Fernsehapparat einige Jahre.

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Nach und nach wurden es weniger Besucher, denn immer mehr Zuschauer leisteten sich einen einen eigenen „Rubens“ oder „Weißensee“ und verfolgten zu Hause das Erste und später das Zweite DDR-Fernsehen. Ja, wer erinnert sich nicht noch an Radrennfahrer Täve Schur und den Sportreporter Heinz Florian Oertel, die Schlagersängerinnen Helga Brauer und Bärbel Wachholz, den Conferencier Heinz, den Quermann oder den Sprecher der Aktuellen Kamera Herbert Köfer, Säulen des DDR-Fernsehens. Für die Mädchen und Jungs von heute sind das natürlich nur Fremdbegriffe, ganz klar!

Onkel Raimund und seine Familie zogen später nach Cottbus und die Anekdoten und Späße verblassten. Doch in Erinnerung blieb der Weihnachtsmann. Erst fand die Bescherung bei uns in der Inneren Neustadt statt, dann zog der gesamte Familienclan in die Äußere Neustadt, auf den Bischofsweg. Und wieder tauchte derselbe Weihnachtsmann auf. Die Wohnung war rappelvoll, als seine tiefe Stimme durch den Raum dröhnte. Er beschenkte da seinen Sohn, also meinen Cousin. Die Worte im sonoren Bass hallen noch nach: „Warst du denn auch immer brav, mein Junge!“

Autor Dietmar Sehn

  • Der Autor dieser Zeilen ist 1944 geboren und wuchs in der Inneren Dresdner Neustadt auf. In unregelmäßigen Abständen bereichern seine Texte das Neustadt-Geflüster. Er hat mehrere Dresden-Bücher geschrieben. Sein aktuelles Buch trägt den Titel „ Historische Kriminalfälle aus Sachsen“ und ist im Suttonverlag erschienen, ISBN: 9783963033001.
Wie in jedem Jahr grüßt der Weihnachtsmann von der Nordstraße.
Wie in jedem Jahr grüßt der Weihnachtsmann von der Nordstraße.

Frohe Weihnachten

Das Team vom Neustadt-Geflüster wünscht allen Leserinnen und Lesern „Frohe Weihnachten“ und ein paar friedliche, ruhige und besinnliche Tage.

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