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Silvester muss Silvester bleiben

Das sagten sich Carl Pietzsch und seine Hilde, als sie sich in Schale warfen und kurz nach halb sieben abends ihr Haus in der König-Albert-Straße 21, Ecke Metzer Straße, verließen. Das Abendessen fiel in diesen Zeiten der galoppierenden Inflation am Ende des Jahres 1922 nicht besonders üppig aus. Kartoffelbrei und Bratwürste mussten genügen. Sie waren froh, dass sie sich mit ihrem Zigarrengeschäft einigermaßen über Wasser halten und sich das eine oder andere kleine Vergnügen noch leisten konnten.

Gasthaus Stadt Zittau in der Ritterstraße - zeitgenössische Postkarte
Gasthaus Stadt Zittau in der Ritterstraße – zeitgenössische Postkarte

Wie in den Jahren seit dem großen Krieg3 begann ihr Silvester um halb Acht im hellerleuchteten Schauspielhaus am Albertplatz mit einem Lustspiel1. Heute stand sogar eine Uraufführung auf dem Programm – „Spießgesellen“ von Heinrich Zschalig.

Soll ein Biedermeierstück sein, mit Nachtwächter, falschem Prinz, einer Kanzleirätin, einer junge Braut und allerlei Popanz. Halt etwas Lustiges, Hinterfotziges und Doppelbödiges mit Seitenhieben auf die Zeitgenossen. Ganz passend, um die Unbilden der Gegenwart einen Abend lang zu vergessen. Anschließend ging es traditionell zur Feier ins Gasthaus zur Carolabrücke im Erdgeschoss ihres Hauses. Hier kannte sich jeder, hier war es gemütlich. Zum Circus Sarrasani am nahen Carolaplatz mit seinen modernen Gaststuben wollten sie nicht. Zuviel Gewühle.

Auch andere wollten feiern

Unweit in der Ritterstraße in der Inneren Neustadt blickte der Dachdecker Max Bär aus dem Fenster in eine recht dunkle Gegend. Nur schwache Lichtscheine drangen ins Freie. Die ungeheuerlichen Beleuchtungsrechnungen ließen die ärmeren Leute hier in diesem Viertel sparen, wo sie nur konnten1. Am schlimmsten waren die Kleinrentner dran. Wer sich einen Weihnachtsbaum leisten konnte, wartete dennoch mit dem Anzünden der Kerzen bis kurz vor Mitternacht. Nur unten aus der Ritterschänke und nebenan aus der Kneipe „Stadt Zittau“ drang Licht auf die Straße. Die Wirte warteten auf Gäste.

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Und die Älteren, die sich an bessere Zeiten vor dem Krieg3 erinnern konnten, leisteten sich an diesem Abend keine Pfannkuchen. Zinngießen und Punsch? Nichts da. Hohlwangig glotzten die dunklen Fenster von gegenüber in die Nacht, schrieb eine Zeitung1. Max Bär zog sich ins Wohnzimmer zurück. Seine Martha hatte ein paar Kerzen auf den Tisch platziert sowie sich selbst ein Glas Wein und ihrem Gatten eine Flasche Bier hingestellt. Noch konnten sie sich diese kleinen Annehmlichkeiten leisten.

Wenigstens raus ins Freie, wenn man schon kein Geld hatte

In der neunten Abendstunde hörte der Regen endlich auf und die Familien aus den ärmeren Vierteln, die sich eine Feier nicht mehr leisten konnten, bevölkerten mit ihren Kindern die nahe Hauptstraße und zogen über die Augustusbrücke in Richtung Altstadt und Altmarkt. „Silvestergucken“ nannte sich dieses Defilee5. Das traditionelle Versammeln der Familie um den erleuchteten Weihnachtbaum fiel vielerorts aus.

Mode in den 1920er Jahren.
Mode in den 1920er Jahren.

Kleinere und größere Gruppen von Jugendlichen beiderlei Geschlechts wanderten lärmend mit Flaschenbier und auch einigen härteren Getränken in Rucksäcken verstaut, zu den Elbwiesen. Sogar den einen und anderen Knaller konnten sich einige noch leisten. Die Elbe war gut gefüllt vom vorangegangenen Regen und eine milde Luft sowie der sich aufreißende Himmel trugen zur guten Stimmung bei. Aber auch die Stadt sparte am Licht. Ganze Straßenreihen lagen im Dunkeln. Ein paar Lichtpunkte setzten die über die Brücken rumpelnden Straßenbahnen. Ein fader Mond kämpfte sich durch die Wolken und verhinderte, dass die Passanten in den finsteren Nebenstraßen in tiefere Pfützen tapsten.

Dann schlug es Zwölf

Ein großes Getöse erfasste die Stadt. Die Glocken der Dreikönigskirche, der Katholischen Franziskuskirche am Albertplatz, der Martin Luther Kirche, der Hofkirche, der Sophienkirche, der Kreuzkirche und der Frauenkirche auf der anderen Elbseite sowie die der sich weiter weg in den Stadtteilen befindlichen Gotteshäuser boten alles auf, was sich in ihnen an Geläut befand. Nun öffneten sich auch die Fenster der fast dunklen Wohnungen und die Menschen riefen sich ein fröhliches „Prost Neujahr“ zu mit der wagen Hoffnung, dass 1923 ein besseres Jahr werden möge. Doch dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung.

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Im Gasthaus zur Carolabrücke feierten Pietzsches recht ausgelassen ins neue Jahr hinein und im Stadt Zittau gönnte sich Max Bär ohne Gattin zwei Bier und einen kleinen Korn. Mehr ließ die Kasse, sprich seine Frau, nicht zu. Schließlich musste man noch durch die Woche kommen. Seit dem gestrigen 30. Dezember kostete ein einfaches Vierpfünderbrot 300 Mark4.

König-Albert-Straße - zeitgenössische Postkarte
König-Albert-Straße – zeitgenössische Postkarte

Krawalle in der fernen Reichshauptstadt

Darüber sprach man dann am 2. Januar 1923 auf den Straßen, in den Betrieben, in den Kneipen und am Familientisch. So hätten die Rettungswachen bis in den Neujahrsmorgen viel zu tun gehabt.1 Einige Personen, zumeist Besoffene, kamen sogar zu Tode. Ein Polizist erschoss einen Arbeiter, der zuvor mit zwei Kumpels einen Wachmann in klassenkämpferischer Manier überfallen hatte.

Ein besoffener Metallhändler gab mit seinem Revolver Freudenschüsse ab und traf dabei versehentlich eine Frau. An der Charlottenburger Brücke ertrank ein Schutzmann, der einen Betrunkenen aus dem Kanal fischen wollte, gemeinsam mit diesem. Und ein Zwölfjähriger hatte einige selbstgebastelte Knaller in der Hosentasche. Als diese explodierten, verstarb der Jüngling. Eine ganze Reihe von Menschen wurden durch Schüsse und Messerstiche mehr oder weniger stark verletzt.

„Typisch Sündenbabel. In unserem beschaulichen Dresden geht es noch ordentlich zu“, sagten sich viele Einheimische aller politischen Couleur und vergaßen die Krawalle in der Stadt einige Wochen zuvor. „Noch“ wisperten die Schicksalsgöttinnen der alten Griechen, Römer, Etrusker, Germanen, Slawen und Balten2 in seltener Eintracht im Hintergrund und kicherten sich eins.

Anmerkungen des Autors

1 siehe Dresdner Nachrichten vom 2. Januar 1923
2 Diese Göttinnen nannten sich (in obiger Reihenfolge) Moiren, Parzen, Lasen, Nornen, Zorya und Laima.
3 gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918
4 Sächsische Volkszeitung vom 31.12.1922
5 defilieren – feierliches Vorüberziehen


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.