Zusammengesunken auf einem Stuhl wie ein Häufchen Unglück, so saß er im Nebenraum des großen Gerichtsaals im Amtsgericht auf der Hospitalstraße in der Dresdner Neustadt und erwartete an diesem 15. Februar 1923 sein Urteil. Schon seit drei Stunden tagte das Gericht hinter verschlossenen Türen. Dem früheren Oberleutnant der Königlich Sächsischen Armee Hans Heinrich Nötzold schwante nichts Gutes.
Großes Interesse herrschte bei der hiesigen Presse an diesen Prozess vor und Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung versuchten einen Platz im Gerichtssaal zu erhaschen.1
Sie erwarteten kriminelle Schauergeschichten, viel dreckige Wäsche und natürlich Schlüpfriges aus einem unbekannten sexuellen Milieu. Aber als es wirklich delikat wurde, schloss das Gericht zum Ärger der Zuschauer diese und die Presse von der Verhandlung aus. Und so machten dann Mutmaßungen, Vorverurteilungen und Halbwahrheiten die Runde.
Ein janusköpfiges Leben
Dass mit ihm etwas nicht stimmen könne, ahnte der von entfernten Verwandten erzogene Hans Heinrich schon frühzeitig. Als er 1912 dem Leipziger Ulanen-Regiment6 als Fähnrich beitrat, Uniformen interessierten ihn schon frühzeitig und erregten ihn auch sexuell, wurde seine „anormale Veranlagung“ bemerkt und man entließ ihn. Da es aber zwischen den Armeegattungen keine bürokratischen Verbindungen gab, konnte er kurz danach in Kamenz bei einem Infanterieregiment unterkommen und brachte es dort sogar zum Oberleutnant. Im Krieg war er als deutscher Soldat in der verbündeten Türkei stationiert. Eine Malariainfektion führte 1917 zur ehrenhaften Entlassung.2
Männer waren in der Heimat knapp, zumindest auf dem Heiratsmarkt und so flogen dem sehr gut aussehenden, sich charmant gebenden und wohlgebildeten Oberleutnant a.D. die Mädchenherzen, auch manche Männerblicke und die materiellen Angebote der begüterten Eltern, nur so zu. Seine sogenannte „unsittliche Veranlagung“ versteckte er tief im Innern. Die Wahl fiel schließlich auf die Adoptivtochter der Dresdner Brauerei-Witwe Bürstinghaus, einer gesellschaftlich geachteten Dame mit viel Vermögen und großem Grundstück auf der linken Elbseite in Briesnitz. Nach der Eheschließung adoptierte die Witwe sogar ihren Schwiegersohn, zunächst noch ohne Erbrecht.
Nach der Revolution 1918 erging es dem smarten Hans Heinrich nicht schlecht. Frisch vermählt verduftete er nach Berlin in den Dienst einer Militärbehörde der Reichswehr. Aus dieser wurde er nach der Reduzierung der Armee nach dem Versailler Vertrag mit dem erheblichen Salär von 10.000 Mark Pension entlassen. Davon erwarb er in der Reichshauptstadt eine Heiratsagentur und einen Friseursalon. Heimlich frönte er dort seiner Veranlagung. Doch Schwiegermama drängte mit lieben Worten und energischen Drohungen auf die Heimkehr des ihr zu frei lebenden Schwiegersohns nach Dresden.2
Er wollte doch niemanden töten
Er wollte seine Schwiegermutter ermorden lassen. Das behauptete die Staatsanwaltschaft und klagte ihn nach § 48 Reichsstrafgesetzbuch an (Anstiftung unter Gewährung von Vorteilen). Zudem habe er diese Absicht in den polizeilichen Vernehmungen selbst zugegeben3. Aber nur, damit nicht herauskäme, dass er in Verbindung mit dem § 175 des Reichsstrafgesetzbuches stehe, so seine Verteidiger.
Das sei schlimmer als die Anstiftung zum Mord an die Schwiegermutter, meinte Hans Heinrich für sich in seiner Zelle der Untersuchungshaft. Dabei habe er doch in Wahrheit niemanden angestiftet. Das wurde ihm nur von anderen eingeredet. Nun sei sein Leben sowieso verkorkst, die Ehe geschieden und die Adoption aufgehoben.
Lichtblicke in der Verhandlung waren die Auftritte der Gutachter, deren Auftritte die beiden Verteidiger Nötzolds durchsetzten. Sowohl der Gerichtsarzt Dr. Oppe als auch Dr. Graatz vom Institut für Sexualwissenschaft aus Berlin sprachen für ihn. Zum ersten Mal hörte er, dass Homosexualität kein erworbenes Laster sei, das ausgerottet werden müsse.
Im Gegenteil. Der Doktor aus Berlin berichtete dem Gericht, dass der Leiter des Instituts, ein gewisser Dr. Magnus Hirschfeld die Berliner Polizei überzeugen konnte, dass Homosexualität keine Krankheit und auch unausrottbar sei. Die Beamten hätten erkannt, dass es einfacher wäre, diese Menschen unter Kontrolle zu halten, wenn man ihnen Freiräume lasse.4
Eine Petition zur Abschaffung des § 175 sei zwar 1922 im Reichstag gescheitert, aber man gebe nicht auf, so Dr. Graatz. Das Problem mit dem Verbot bringe auch andere Probleme mit sich, wie Morde und Erpressungen. Um letzteres scheine es sich in diesem Gerichtsfall zu handeln.5
Da fiel Hans Heinrich ein, dass er den Namen Hirschfeld in einigen Berliner Lokalen nicht nur gehört hatte, sondern ihn dort auch sah. Allerdings in Frauenkleidern als „Tante Magnesia“.4
Schade, dass bei diesen Gutachtern die Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Zum ersten Mal verstand er sich selbst und er schämte sich seiner Tränen nicht.
Die schamlosen Nutzer einer Tragödie
An solche geriet er, als er als handlungsreisender Kaufmann immer mal wieder nach Berlin kam. In der „Großen Passage“ tummelten sich allerlei Merkwürdigkeiten aus der Subkultur der Hauptstadt. Hier fühlte sich Hans Heinrich frei. Hier konnte er sein, wie er wirklich war.
Und hier fischte auch das Böse. Er als gutaussehender junger Mann blieb nicht lange allein. So umschmeichelt fiel er auch auf zwei Spießgesellen rein, die zwar mit ihm ins Bett gingen, aber anderes im Sinn hatten. Schwule waren eine gutes Geschäftsfeld für leicht erworbenes Geld, sprich Erpressung. Und die späteren Zeugen Willi Ruda und dessen Kumpel Franz Heuskel waren diesbezüglich tätig.
Im trunkenen Zustand forschten sie Hans Heinrich aus und erkannten recht bald die Quelle neuer Einnahmen. Zum einen wandten sie sich an die Schwiegermutter Bürstinghaus in Dresden und erhielten angeblich „als Belohnung für die Überführung der bösen Taten des homosexuellen Hans Heinrich“ einen Obolus von 5.000 Mark und dann später noch einen von 2.000 Mark.
Um Spuren zu verwischen, redeten sie zum anderen dem armen Opfer im Suff den Auftrag zur Tötung der Schwiegermutter ein, damit dieser selbige beerben könne und endlich frei für sein schwules Leben sei.
In Wirklichkeit informierte Heuskel die Berliner Polizei, dass die Tat für den 26. Februar 1922, 9 Uhr abends, im Park der Brauereiwitwe in Dresden geplant sei. Und so wurde Hans Heinrich Nötzold verhaftet. Die Staatsanwaltschaft setzte sogar durch, dass die beiden Gauner durch Gerichtsbeschluss „als der Mittäterschaft nicht verdächtig“ erklärt wurden. Zudem wurde die durch die Verteidigung beantragte Vorladung der Witwe Bürstinghaus und deren Aussage verhindert.3
Aber so unschuldig konnten sich die Erpresser nicht geben. Ein Privatdetektiv aus Berlin berichtete, dass der Ruda mal wegen Erpressung für sechs Monate in Untersuchungshaft saß und dass der Heuskel wegen 19 Rohheitsdelikten vorbestraft sei. Ein Geschäftspartner von Nötzold redete nur positiv über ihn und dass dieser nur gut über seine Frau uns seine Schwiegermutter gesprochen habe. Auch die Lokalbesichtigung auf dem Grundstück der Villa der Brauerei-Witwe ergab, dass die Tat dort so nicht ausgeführt werden konnte, wie das die Erpresser geschildert hatten. Das hinterließ berechtigte Zweifel beim Gericht.
Das Urteil
Als Hans Heinrich Nötzold mit hängendem Kopf und innerlich aufgewühlt in den Gerichtssaal geführt wurde, spürte er die Blicke der Besucher und Presseredakteure auf sich gerichtet. Alles wartete gespannt auf das Urteil gegen diesen abnormalen Perversling, der mit niedrigen Instinkten der ehrbaren Witwe an ihr Leben und ihr Vermögen wollte.
Das Urteil lautete: Freispruch3. Ein Raunen ging durch den Saal. Hier und da erschollen empörte Laute des Missbilligens. Der Vorsitzende läutete energisch mit seiner Glocke und erbat sich Ruhe.
Hans Heinrich blickte ungläubig zum Richter, dem Landgerichtsrat Dr. de Lasalle. Auch seine Verteidiger hoben erstaunt die Köpfe, gratulierten sich und ihrem Mandanten. Der Freispruch war einer mit Makeln. Sie hätten sich eine vollständige Rehabilitation gewünscht. Aber die Justiz und die Dresdner Gesellschaft waren noch nicht so weit.
Für Hans Heinrich war klar: Hier konnte er nicht bleiben. Überleben könne er nur in Berlin. Vorerst. Vielleicht.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Neueste Nachrichten vom 8. Februar 1923
2 Dresdner Neueste Nachrichten vom 9. Februar 1923
3 Dresdner Neueste Nachrichten vom 16. Februar 1923
4 www.mh-stiftung.de Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld
5 „Ich … darf wohl sagen, dass, wenn den Homosexuellen in Berlin jetzt so ein einzigartiges Restaurationsleben vergönnt ist, dies vor allem unserer aufklärenden Bewegung zu verdanken ist, ohne dass wir freilich für gewisse Auswüchse, die auch hier mit der Zeit Platz ergriffen haben, verantwortlich gemacht werden möchten.“ aus der Schwulenzeitschrift „Die Freundschaft“ vom Februar 1922, Interview mit Magnus Hirschfeld
6 eine mit Lanzen bewaffnete Gattung der Kavallerie
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
„ Der Freispruch war einer mit Makeln. Sie hätten sich eine vollständige Rehabilitation gewünscht. Aber die Justiz und die Dresdner Gesellschaft waren noch nicht so weit.“
Nur wenige Jahre nach obigem Urteil wurden Menschen ins KZ gesteckt, weil sie Menschen des selben Geschlechts liebten. Wenn es nach einigen ginge, wären wir auch heute wieder so weit.
Oh Mann, ich möchte kein Anwalt für Strafrecht sein. Schwierige Fälle und Verhältnisse. Solche Geschichten sind schlimm und berühren einen doch immer.