„Hannes, bring uns bitte noch eine Runde“, rief der kleine Ewald dem Wirt an der Theke des Neustädter Kasinos in der Königstraße1 zu. „Aber diesmal mit Kompott.“
Monatlich trafen sich die Mitglieder der Clique aus der Gegend zwischen König- und Theresienstraße, die es noch nicht in die Ferne gezogen hatte. An diesem kalten 20. Februar 1923 sind es fünf von ihnen. Alle im zweiundzwanzigsten Jahr ihres Erdendaseins und alle unverheiratet.
„Ab heute läuft übrigens im Palasttheater der Film „Die Bummellotte“.2 Soll etwas anrüchig sein. Deshalb kannst du erst ab 21 rein. Was wir Gott sei Dank sind.“ Alois hob grinsend die rechte Hand. Damit hatte er die Aufmerksamkeit aller. Der kleine Ewald wollte wissen, ob man da Brüste und noch anderes sehe.
Georg, der als Einziger von ihnen das Gymnasium besucht hatte und inzwischen an der Technischen Hochschule Maschinenbau studierte, tätschelte dem Ewald auf den Rücken.
„Brauchst nicht zu sabbern. Bei deiner Körpergröße kommst du eh nur mit amtlichen Papieren und Erwachsenenbegleitung rein.“ Alles lachte. Ewald verzog scheinbar schmollend sein Gesicht. Er kannte seine Pappenheimer und ihre Späße. „Ich will ja noch wachsen, weiß aber nicht wie.“ Das Lachen steigerte sich zu einem Vulkanausbruch an Heiterkeit.
Der süße Franz bemerkte süffisant:
„Wo willst du denn noch wachsen?“ Seinen Beinamen trug er als Sohn eines Schokoladenfabrikanten schon seit Jahren. Dass Franz mit seiner Bemerkung auf die Arme und Beine vom Ewald abzielte, sah dieser schon lange nicht mehr verbissen. Nicht alle Körperteile sind unterentwickelt, ging es Alois schmunzelnd durch den Kopf.
Friedrich, der inzwischen als Gehilfe eines Pressefotografen der Dresdner Neuesten Nachrichten arbeitete, versuchte den scheinbaren Fauxpas abzumildern. „Das mit dem Wachsen wird wohl bei dir nichts mehr. Höchstens am Bauch.“ Auch hier lachte alles, einschließlich Ewald. „Aber mach dir nichts draus. Du bist unser Freund, so wie du bist.“ Alle hoben die Gläser.
„Wieviel Geld habt ihr heute in der Tasche? Seid ihr mit dem Handwagen hergekommen?“, lenkte Alois die Gespräche in eine andere Richtung. „In deiner Zeitung“ und zeigte damit auf Friedrich, „habe ich eine interessante Notiz gefunden“3. Dann schlug er die betreffende Seite auf. „Danach behaupten doch die Ruhrbesetzer5, dass wir zu wenig nach dem Versailler Vertrag an sie bezahlen. Hier steht es schwarz auf weiß. Bis zum 30. September 1922 haben wir mit unseren Steuern und Abgaben und mit der Inflation 56,5 Milliarden Goldmark oder 282,5 Billionen Papiermark bei einem Dollarstand von 20.000 Mark bezahlt3. Und das reicht denen nicht. Das ist ungeheuerlich.“
Zustimmung am Tisch.
Was hätte man mit dem Geld alles machen können?
„Zum Beispiel, dass es keine bettelnden Kinder mehr auf unseren Straßen gäbe“, meinte Georg.
„Hab neulich am Hauptbahnhof Kinder gesehen, die sich anboten, Gepäck zu tragen. Da frage ich mich bei den dünnen Hansels nur wie die die schweren Holzkoffer tragen wollten. Das ist übrigens verboten, wie auch Kinderarbeit überhaupt3. Ja, ja, ich weiß“, wehrte der süße Franz die zu erwartenden Einwände vom Georg ab. „Hätte es den Krieg nicht gegeben, dann hätten wir keine bettelnden Kinder.“
„Stimmt doch“, unterstrich Georg diese Aussage mit einem Fausthieb auf dem Tisch, so dass der Wirt mit ernstem Blick in Richtung der Gruppe schaute.
Franz konterte. „Was soll dein linkes Gewusel. Da machst du dir das ein bisschen zu einfach. Und in deinem gepriesenen Himmelreich Sowjetrussland gibt es sogar noch mehr Hunger und Bettelei als bei uns.“
Der kleine Ewald klopfte
mit seinem Taschenmesser an das Glas, um sich Gehör zu verschaffen. „Freunde, was soll der Streit. Ja, es gibt viel Elend. Ja, es ist ein Graus mit der Inflation und ja, es könnte uns vielleicht besser gehen, wenn der Krieg nicht passiert wäre. Aber die Welt ist nun mal so. Und ändern können wir sowieso nichts.“
„Doch“, antwortete Georg. Als sich erneut Widerstand regen wollte, grinste er verschmitzt, was die anderen irritierte. „Ich werde mich ändern. Ich werde Hochstapler.“
Nun verstand keiner mehr was. Mit einem kreisenden Zeigefinger deutete Georg dem Wirt an, eine weitere Runde zu liefern. „Hier in Friedrichs Journaille ist ein tolles Geschäftsmodell beschrieben, nämlich: Wie werde ich Volkskommissar für die Ukraine und Russland.“4
„Was, du willst nach Sowjetrussland? Auf dich haben die gerade gewartet“, überwand Alois als erster die Sprachlosigkeit.
Georg lachte. „Natürlich nicht.“ Und die Neugier am Tisch konnte man buchstäblich wachsen sehen. „Braucht man auch nicht. Dieser ominöse Volkskommissar war übrigens ein Deutscher. Der war in einem von Sowjetrussland gegründetem Handelsunternehmen hierzulande tätig.“
„Und wie kam man dem auf die Schliche?“, unterbrach der süße Franz den Georg’schen Redeschwall.
Volkskommissar aus Ostpreußen
„Hinterhergeschlichen ist man dem schon länger. Ursprünglich soll der ‚Volkskommissar‘ aus Königsberg in Ostpreußen6 stammen. Vielleicht hatte er ein gewisses russisches Aussehen und konnte gut mit Akzent sprechen. Jedenfalls öffneten sich ihm die Türen der deutschen Geschäftswelt. Man hechelt in diesen Zeiten nach Gewinn und Devisen. Der Vertrag von Rapallo7 öffnete zusätzlich die Geldbörsen.“
„Und? War er erfolgreich?“ Diesmal kreiste der Zeigefinger von Friedrich, dem Fotoknipser, als Signal an den Wirt.
„Er hätte einer der reichsten Männer Deutschlands werden können. Bei dem Zigarettenfabrikanten von Gorotty bestellte er Glimmstängel für zehn Millionen Mark8 und zahlte mit einem ungedeckten Postscheck. Zudem entwendete er dem ukrainischen Inhaber den Pass und stahl bei anderer Gelegenheit 800.000 Mark. In der erwähnten Sowjetfirma stahl er ein Scheckbuch und bestellte damit Waren in riesigem Ausmaß. In Berlin kaufte er u.a. 30 Lastkraftwagen und erschwindelte sich damit 800 Millionen Mark.“
„Ich werde verrückt“, stammelte Ewald. „damit könnte ich das gesamte Hotel meines Vaters, die ‚Vier Jahreszeiten‘ am Neustädter Markt, aufs Modernste und Luxuriöseste renovieren und in mehreren Städten sogar Filialen errichten.“
„Das ist noch längst nicht alles“, setzte Georg wieder ein. „Aus einer weiteren Tabakfabrik holte er auf diese Weise 300 Millionen Mark und eine Maschinenbude erleichterte er um eine halbe Milliarde. In Hamburg trat er übrigens auch als Schriftsteller Münzenberg auf. Unter diesem Titel ergaunerte er sich dann in Leipzig Zigaretten und Schokolade mit ungedeckten Schecks für 200 Millionen. War der auch bei euch in der Bude, Franz?“
Dieser schüttelte den Kopf. „Aber geschnappt hat man ihn doch?“, fragte er.
„Natürlich. Gestern hier in Dresden. Auf unsere Polizei ist Verlass.“
„Und du willst immer noch Volkskommissar werden?“
„Natürlich. Aber ich würde es besser machen. Fragt nicht, wie“, hob er abwehrend die Hände. „Das bleibt mein Geheimnis“, und bestellte eine weitere Runde.
Anmerkungen des Autors
1 heute das Dresdner Kulturrathaus
2 Kino in der Alaunstraße 28, äußere Neustadt, existierte von 1921 bis 1930
3 Dresdner Neueste Nachrichten vom 21. Februar 1923
4 Dresdner Neueste Nachrichten von 20. und 21. Februar 1923
5 Zwischen dem 11. und 16. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen zeitweilig das Ruhrgebiet und angrenzende Teile des Bergischen Landes bis 1925. Dies diente als „produktives Pfand“ für die deutschen Reparationsleistungen gemäß dem Versailler Vertrag von 1919, so deren Begründung.
6 Gehört seit dem Potsdamer Abkommen 1945 zu Russland
7 Am 16. April 1922 schlossen das Deutsche Reich und die Russische Sowjetrepublik überraschend einen Vertrag zum Durchbruch der Isolation beider Staaten nach den Ersten Weltkrieg, zur Normalisierung ihrer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen.
8 Diese Geldbeträge sind Inflationszahlen. Da sich täglich (und später fast stündlich) die Umrechnungen in Dollar und andere Devisen änderten, gibt es für die Zeiten zwischen 1921 und Ende 1923 durch die Bundesbank keine seriösen Umrechnungen in Euro.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.