„Albin, hast du das gelesen?“, rief am Ostersonntagmorgen Traudel ihren Mann zu. „Was gelesen?“, grummelte dieser am Frühstückstisch, sein Butterbrot schmierend, während die beiden Kinder, Elsa und Erwin, je ein bunt gemaltes Ei abpellten und genüsslich verspeisten. Diese hatte die Mama im Wohnzimmer versteckt. Im Hof der Hechtstraße 39 der Dresdner Neustadt hatte dies Vater Albin Claus vor ein paar Jahren noch selbst getan. Aber ehe die Kleinen vom 4. Stock den Hof erreichten, hatten andere Kinder die bunten Eier längst gefunden. Da nützte es auch nichts, dass sich im Parterre1 die Meldestelle des 13. Polizeibezirks befand.2 Seitdem durften die Kinder die Ostereier im Wohnzimmer suchen.
„Ich meine den Mittagessenvorschlag aus den Dresdner Nachrichten.“3
„Was ist damit?“, brummelte Albin genervt, der wenigstens einmal in der Woche beim Frühstück seine Ruhe haben wollte.
Träume
„Diese Schreiberlinge von der Zeitung denken, wir haben einen Goldesel zu Hause, der trotz der galoppierenden Inflation täglich Milliarden scheißt.“ Gelächter bei den Kindern und Erwin machte dazu ein Pupsgeräusch. „Ist doch wahr“, rief Traudel. „Wenn es nach denen ginge, gäbe es heute Mittag eine klare Fleischbrühe von einer Rinderbeinscheibe, dann würde ich euch mit Schweinebraten, Klößen und Sauerkraut beglücken und als Nachspeise servierte ich einen Mandelpudding.“ Begeistert klatschten die Kinder in die Hände und Gatte Albin grinste.
„Würde ich sehr gerne, meine Lieben. Aber euer Vater bringt als Mechanikergehilfe nun mal keine dicke Lohntüte mit nach Hause. Dick ist die zwar auch, aber nur von den Millionen Inflationsgeld. Da kann man zugucken, wie die Scheine im Wert verfallen. Bevor ich von dem Rest das Haushaltsgeld bekomme, versackt mein lieber Albin nebenan in der Kneipe ‚Zum Deutschen Schäferhund‘ bei der schamlosen Wirtin Hedwig Marx.“2 Dabei funkelte sie ihren Gatten wütend an.
„Und deshalb gibt es heute nur Pellkartoffeln mit mariniertem Hering. Keine Rinderbouillon, keinen Pudding. Ihr braucht nicht so bedeppert dreinzublicken. Schließlich habt ihr schon die bemalten Eier bekommen. Die waren auch nicht billig.“
Regelmäßig musste sie im Konsumverein Vorwärts, zwei Häuser weiter2, anschreiben lassen. Bis jetzt konnte sie dank ihrer Sparsamkeit froh sein, dass sie an Albins wöchentlichem Zahltag ihre Schulden begleichen konnte. Sollte das eines Tages nicht mehr reichen, müsste sie sich eine Anstellung suchen.
Sehnsüchte
Vater Albin hatte die Meckerei satt und verabschiedete sich zum Frühschoppen in seine Stammkneipe. Die Kleinen seufzten. Ihnen war die finanzielle Lage der Familie wohl bewusst. So erging es auch ihren Freunden hier im Arbeiterviertel. Elsa, die größere der beiden Kinder, ging in die vierte Klasse der Volksschule. Sie schnappte sich die Zeitung und las ihrem kleinen Bruder und der Mutter vor, was man am Ostermontag empfahl. „Als Vorsuppe gab es da Reissuppe.“ Mmm, kam es von Erwin.
Mama Traudel lachte. „Da hättet ihr in einer reicheren Familie vorn an der Königsbrücker hineingeboren werden müssen. Die können sich sowas leisten.“
„Mama, ich weiß das. Aber man darf doch noch träumen. Und als Hauptgang gäbe es dann … Rouladen mit Kartoffelmus und dazu ein Pflaumenkompott.“ Der Kleine sprang begeistert auf und klatschte in die Hände.
„Und was gibt es morgen bei uns?“, fragte er und blickte die Mutter mit seinen großen Augen an. Diese streichelte ihm liebevoll über den Kopf. „Kartoffelsuppe, mein Liebling. Mehr können wir uns nicht leisten. Und anschließend gehen wir an die Elbe spazieren.“
Das passte Elsa nicht. „Immer an die Elbe“, nörgelte sie. „Der gleiche Mist wie mit dem Osteressen. Das ist langweilig. Gibt es nicht mal was Interessanteres, wo auch was los ist?“
Realitäten
Mama Traudel verstand ihre Kinder. Aber das Geld für Vergnügungen ausgeben, war nicht möglich. Es reichte ihr schon, wenn Albin sein Vergnügen im „Schäferhund“ hatte. Da musste der Rest der Familie zurückstecken. Essen, Miete und Heizung gingen vor. Gern würde sie sich auch mal was gönnen. Zum Beispiel mit der Straßenbahn nach Niedersedlitz fahren, zu Fuß über Dohna nach Weesenstein wandern und wie die Gutbetuchten im Schlossrestaurant einkehren. Und Elsa zöge es zur Burg Stolpen. Dort soll doch wahrlich der starke August seine Freundin, die Gräfin Cosel, viele Jahrzehnte eingesperrt haben. Wie gruselig.4 Elsa seufzte.
Es war natürlich allen bewusst, dass letztendlich nur der Spaziergang an die Elbe übrigblieb. Man konnte doch mal träumen, sagten sie sich. Das kostete nichts. Und Ostermittag wartete der marinierte Hering.
Anmerkungen des Autors
1 Parterre, das zu ebener Erde liegende Geschoss eines Gebäudes, Erdgeschoss
2 Historisches Adressbuch von Dresden 1922/23
3 Dresdner Nachrichten vom 1. April 1923
4 Dresdner Nachrichten vom 29. März 1923
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.