Mit blanker Wut im Gesicht knallte der Geheimrat und Doktor der Jurisprudenz Christian Moritz Hänel seinen Zinnhumpen so auf den Tisch, dass dieser überschwappte. „Wir Hausbesitzer haben ringsum Feinde. Wenn auch nur einer von uns aus Versehen gegen die Ordnung verstößt, wird uns das von einigen Konservativen und auch den Sozis sogleich als bewusste Böswilligkeit ausgelegt.“
Beifall unterstrich diese Aussage.
Seit einer halben Stunde saßen an diesem Apriltag des Jahres 1889 ein Großteil der Hauseigentümer der Königstraße in der Dresdner Neustadt in der neueröffneten Bach´schen Restauration der Nummer 151 und berieten auf Hänels Initiative über die neue Verordnung des Stadtrates zur Beleuchtung der Wohnhäuser.1 Dabei ging es ihnen nicht um das Thema an sich, sondern um die Tatsache, dass nun auch im Sommer die Treppenhäuser abends zu beleuchten seien.
Wer soll das bezahlen?
Die Generalleutnantswitwe Agnes Antoinette von Zerschau, Besitzerin der Königsstraße Nr. 33, wies darauf hin, dass diese Verordnung verlange, dass „alle Räume, Hausflure, Treppen, Gänge und Höfe, die zu Wohnungen führen, von Beginn der öffentlichen Straßenbeleuchtung bis 10 Uhr abends zu beleuchten sind.1 Wer soll das bezahlen? Ich höre schon meine Mieter mir die Ohren voll klagen, weil ich die Kosten dafür auf sie umschlagen muss.“
Die Bergwerksdirektorenwitwe Clara Frederike Deutz aus der 5 stimmte ihr zu. „Und wenn wir die Kosten nicht aufbringen und nicht auf die Mieter umschlagen können, dann droht man uns mit einer Geldstrafe bis zu 60 Mark2 oder wir werden für 14 Tage eingebuchtet. Ich darf gar nicht daran denken. Ich hinter Gittern. Diese Schande. Wenn das mein seliger Franz noch erlebt hätte. Der würde dem Bürgermeister sein Büro zur Hölle machen.“ Dabei wischte sie sich eine Träne aus den Augen.
„Und das ist noch nicht alles. Haben wir mal einen Tag mit trübem Wetter voller tiefhängender Regenwolken, dann soll das Licht in den Treppenhäusern den ganzen Tag lang brennen. Was für eine Geldverschwendung. Früher ging es auch ohne Licht. Wenn es dunkel wurde, musste jeder Mieter für seinen sicheren Zugang zur eigenen Wohnung selbst sorgen. Und jetzt?“, regte sich der Eigentümer von der Königstraße 2, Kaufmann Carl Theodor Reimann3 auf.
Unerhört!
Kommerzienrat Dr. Rudolf Lubold aus der Nr. 1, direkt am Kaiser Wilhelm-Platz4 gelegen, hörte sich die Meinungen an. Als Mitglied des Vorstandes des Grundbesitzerverbandes der Residenz hob er beschwichtigend die Hände, bevor die Stimmung in eine kleine Revolte kippte. „Meine Damen und Herren. Ehe hier noch jemand wegen Herzversagens ins Hospital gebracht werden muss, bewahren wir doch Ruhe.“ Die Autorität des reichsten Mannes an der Straße der Gutbetuchten tat ihre Wirkung. „Ich kann ihre Empörung gut verstehen, zumal es einige Schreiberlinge in der Tagespresse nicht unterlassen können, versteckte Aufforderungen an die Polizei zu geben, damit diese ihre Kontrollen bezüglich der Beleuchtungsverordnung verschärfe.“
Das brachte Kommerzienrat Franz Anton Müller aus der 213 dazu, seinen Humpen mehrmals auf den Tisch niedersausen zu lassen. „Da hat der Lubold recht. Das stärkste Stück leistete sich kürzlich das Organ des Conservativen Landesvereins im Königreich Sachsen und des Conservativen Vereins zu Dresden, die Wochenschrift ‚Das Vaterland‘. Die versteigerte sich zu einer förmlichen Denunziation, sprach von pechfinsteren Räumen, von Flammen, die nicht angezündet würden.“ Wieder wurden die Humpen auf die Tischplatte getrommelt. „Unerhört“-Rufe wurden laut.
„Ja, ich habe das auch gelesen. Dieses Schmierenblatt versteigerte sich doch zu der gehässigen Behauptung, dass wir Hausbesitzer so findig seien, mit allerlei Hilfsmittelchen und Ausreden diese stadträtliche Verordnung zu umgehen“, fügte Hänel hinzu.
Immobilienbesitzer gleich Melkkühe
Lubold seufzte. „Es ist leider so, dass die Herren Politiker, die hinter diesem Blatte stecken und sich konservativ nennen, die Interessen von uns wahren konservativen und liberalen Hausbesitzern meist zuwider sind. Das wissen wir doch längst. Ich hätte nur nicht gedacht, dass die sich uns gegenüber so übelnehmerisch verhalten.“
„Und, lieber Lubold? Wie wollen Sie und der Vorstand der Grundbesitzer uns vor weiteren Machenschaften des Stadtrates schützen? Wir sind doch keine Kühe, die man dauernd melken kann“, plusterte sich die dralle Generalleutnantswitwe auf. Das brachte einige Lacher am Tisch ob des Vergleichs hervor und rief die Bergwerksdirektorenwitwe zur Verteidigung ihrer Kollegin auf den Plan.
„Meine Herren, es ist empörend, dass sie die Gnädige Frau von Zerschau und mich nicht ernst nehmen. Schließlich sitzen wir im selben Boot. Sich jetzt aufzuregen und zu rebellieren, bringt auch nichts. Wo bleibt Ihre Vernunft? Das Kind ist doch längst in den Brunnen gefallen. Deshalb richte ich an den Vorstand der Grundbesitzer, namentlich an das Vorstandsmitglied, Kommerzienrat Dr. Lubold und an Sie, Geheimrat Hänel, die Aufforderung, künftig schon im Vorfeld der Beschlussfassungen Einfluss auf den Stadtrat zu nehmen. Anderenfalls wäret ihr als Verein überflüssig.“
Ob dieser weiblichen energischen Einlassung herrschte Stille am Tisch. Dann begann hier und da ein zaghaftes Zinnhumpengetrommel.
Geheimrat Hänel fasste nach beruhigend wirkenden tiefen Zügen aus seinem Humpen die Diskussion zusammen. „Frau Bergwerksdirektor, ich danke ihnen für ihre Bemerkungen. Aber wir sind vernünftig und brauchen von Ihnen keine Belehrungen oder sonstigen unqualifizierten Drohungen. Ich erinnere daran, dass es unserem Dasein geziemt, Gesetze und Verordnungen zu achten, auch wenn diese weh tun. Das ist Konservatismus und Liberalismus, so wie er in uns lebt. Auf den der Herren vom ‚Vaterland‘ verzichten wir. Prost.“1
Anmerkungen des Autors
1 Zeitschrift für Grundbesitzer Nr. 1, 1889
2 entsprechen 432 Euro (nach der Tabelle der Deutschen Bundesbank zur Umrechnung historischer Beiträge in deutschen Währungen, Stand Januar 2022)
3 Historisches Adressbuch der Stadt Dresden für 1889
4 heute Palaisplatz
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.