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Längere Haare und hutlose Köpfe

Während die Inflation 1923 mit zunehmendem Galopp in die Zielgerade einritt, mehr Gas gab und dabei der Rennbahn in Reick alle Ehre machte, verarmten zusehends weite Kreise der Mittel- und Unterschichten. Der Spruch aus der Kaiserzeit „wer den Pfennig nicht ehrt, ist die Mark nicht wert“ wurde ad absurdum geführt.

Ersteren konnte man zum Schrottplatz bringen oder sich daraus eine Halskette basteln und zweitere entfaltete ihre Kaufkraft erst jenseits von mindestens 6 Nullen nach der eins. Da war nichts von den später so gerühmten „goldenen Zwanzigern“ zu bemerken.

Albertgarten am Eingang zur Glacisstraße, Bildmitte, vorn rechts ein Teil vom Alberttheater, zeitgenössiche Postkarte
Albertgarten am Eingang zur Glacisstraße, Bildmitte, vorn rechts ein Teil vom Alberttheater, zeitgenössiche Postkarte

Sucht nach Vergnügen

Aber auf einem anderen, weniger notwendigen Lebenszweig waren sie durchaus schon in beginnender Blüte – nämlich in der Mode. Ganz altmodisch wurde diese auch in der Zwischenkriegszeit von den Oberflächlichkeiten, wonach der Schein das Sein und die Fiktion „Kleider machen Leute“ die Lebenswirklichkeiten des Daseins bestimme. Nach Krieg, Revolution und der geistigen Flucht vor den Verwerfungen der Reparationen, Verarmungen und der Ruhrbesetzung suchte man gierig die Entspannung, das Heitere, das Frivole, das Lebenslustige und stürzte sich ins pralle Leben.

Und diese Lebenshungrigen, meist jüngeren Alters, tummelten sich auch in der Neustadt in den verschiedensten Lokalitäten. Die etwas Gebildeteren gingen zunächst ins Alberttheater1 oder zu Tymian2 in die Görlitzer Straße. Andere zog es in eines der vielen Kinos, um sich einen lustigen Stummfilm mit Klavierbegleitung anzusehen.

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Blitzumzug

Und danach gings in eine Bar oder ein gehobeneres Etablissement, wie ins Restaurant Königsallee und ins Neustädter Kasino auf der Königstraße, in das vegetarischen Restaurant Pomona auf der Hauptstraße, in den Albertgarten und in den Tanzpalast Nachtfalter3 auf der Glacisstraße. Der Tanzpalast wurde gern von jungen Männern aus der nahe gelegenen evangelischen Gesellenherberge Glacisstraße 38 frequentiert.4 Die Arbeiterfallen5 im Hechtviertel waren eher nicht die Ziele dieser neuen Dandys.

Auf das Äußere kam es an

Und dafür brauchte man(n) eine entsprechende äußere Erscheinung, die Eindruck machte. Eindruck auf die vermögende Kriegerwitwe, die was schnuckeliges suchte, Eindruck auf die ein gutes Erbe zu erwartende Tochter eines der an der Glacisstraße wohnenden Unternehmer oder auch Eindruck auf einen gutsituierten mittelalterlichen oder älteren Herrn, dem eine jüngere Ausgabe, die oft über wenig Barschaft, aber gutem Körperbau verfügte, zur Freude gereichte.

Die Haare wurden wieder länger, wie hier der Schauspieler Rudolph Valentino zeigt.
Die Haare wurden wieder länger, wie hier der Schauspieler Rudolph Valentino zeigt.

Aber nun zum Kopf. Dem des Herrn. Gemeint ist natürlich der des irdischen männlichen Wesens. Nicht immer entschied dessen Inneres über eine Beziehungen gleich welcher Art und Orientierung. Auch hier trumpfte der auf, der dem gängigen Schönheitsideal am ehesten entsprach. Bodybuilding war damals auch schon eine Möglichkeit, um beim Balzen die besseren Karten zu haben oder um auch nur seinem Narzissmus zu frönen.

Haar und Hut

Vor einem Jahrhundert bahnte sich etwas Neues, eigentlich aber Altes, den Weg in die Öffentlichkeit – man(n) ließ das Haupthaar etwas länger wachsen, insofern dies die Natur und die damals nur in den Wissenschaften seit 1904 bekannten Gene zuließen. In den Klatschspalten der hiesigen Presse war der Haarbüschel ein Thema.

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Mit dem Verschwinden von Kaiser und König und dem Verlust des Militärischen im Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwand auch zunehmend der militärisch kurze und stahlhelmgerechte Haarschnitt. Weniger aber in der Arbeiterschaft. Nun wurde das etwas längere, vollere Kopfhaar ein Attribut für männliche Jugendlichkeit in der Mittelschicht. Parallel dazu verschwand ganz allmählich auch der Hut, zumindest bei den jungen Männern.6

Dresdner Nachrichten vom 16. April 1923
Dresdner Nachrichten vom 16. April 1923

Das Gehen ohne Hut, so die Presse, soll dem Haar und der Kopfhaut zuträglicher sein. Man solle „sehr eng anliegende, an irgendeiner Stelle den Kopf pressende, sehr harte und die Schädeldecke luftdicht abschließende ‚Behauptung‘ unbedingt vermeiden“, denn diese würden „die Adern auf dem Kopf zusammendrücken und damit die Nährstoffzufuhr verhindern“. Das führe dazu, „dass die hohe Stirn bald bis zum Nacken reiche“.

Männer mit Strohhut im Sommer wurden als „Gartenschönheit“ verunglimpft, weil sie damit einen Teil ihrer Anmut verlören. Eine andere Bezeichnung dafür war „Eierfeder-Hut“7 . Und die „steifen Behauptungen“ wurden „Angströhren“8 genannt.

Und was die Haarlänge betraf, so plädierte man betont auf „mäßig langes Haar“, um die Kopfhaut bequem reinigen zu können. Das sei der „Entwicklung eines gesunden Haarwuchses dienlicher als die Frisur eines Igels9 oder des alle acht Tage mit der Zweimillimetermaschine abgesägten Stachelkopfes“10.

Wider dem Saufen

Diese sich von den jungen Männern einfach genommenen neuen Freiheiten (nicht nur in der Mode) waren den konservativen und monarchistischen Kreisen, die nach wie vor das Sagen in Regierung, Wirtschaft und Bildung hatten, ein Dorn in ihren Augen. Diesem moralischen Verfall, der mit dem Tolerieren von Freizügigkeiten zweifelhafter Arten einherging, wollten diese Kreise entgegenzugetreten.

Gesellenherberge in der Glacisstraße, zeitgenössische Postkarte
Gesellenherberge in der Glacisstraße, zeitgenössische Postkarte
Das erste Problem: das Saufen und Rauchen der Jugendlichen beiderlei Geschlechts. Und so beschloss die Reichs- und etwas später auch die sächsische Landesregierung den Besitzern von Gast- und Schankwirtschaften, von Ladengeschäften sowie Händlern die Abgabe von Tabakwaren, branntweinhaltigen Schokoladen- und Zuckerwaren, Branntwein, Bier, Wein, Beerenweinen und andere alkoholhaltige Getränke und branntweinhaltige Genussmittel an Jugendliche zu verbieten.

Der Ausschank alkoholischer Getränke wurde erst ab 18 Jahre erlaubt, Tabakwaren konnten ab 16 verabreicht werden. Bereits Betrunkene durften nicht mehr bedient werden. Wer sich dem widersetzte wurde mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder einer Geldstrafe bis zu einer Million Mark bestraft.11

Um die Moral unter den Jugendlichen zu stärken, wie eingangs ausgeführt, hatte diese Verordnung in den „Goldenen Zwanzigern“ aber nur mäßigen Erfolg.

Anmerkungen des Autors

1 stand am Albertplatz, 1945 zerstört, heute ein Parkplatz – mehr dazu.
2 Tymians Thalia Theater, Görlitzer Straße 6, ein erhaltener Teil ist heute das kleine Programmkino „Thalia“ – mehr dazu.
3 heute das Kleine Haus des Staatsschauspiels
4 alle erwähnten Restaurants sind im Historischen Adressbuch der Stadt Dresden zu finden
5 umgangssprachlich für die Eckkneipen in der Nähe der Industriebetriebe und in den Wohngebieten der Arbeiterfamilien, wie dem Hechtviertel
6 Dresdner Nachrichten vom 16. April 1923
7 umgangssprachliche Bezeichnung für einen Strohhut und andere Hüte aus Naturstoffen, wie Hanf;
8 umgangssprachlich für Zylinder, Melone oder andere Hüte aus sehr steifem Material
9 eine Kurzhaarfrisur mit aufrechtstehenden Haaren, damals mit Pomade in Form gehalten
10 umgangssprachlich in den 1920er Jahren bezeichnete superkurze Herrenfrisur
11 Dresdner Nachrichten vom 1. April 1923


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.