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Ein Verein für Anekdoten (Teil 1)

„Zum Wohle, meine Herren“, sprach Oskar Becher zu den Anwesenden im Salon des Hotels „Vier Jahreszeiten am Neustädter Markt und fügte verschmitzt hinzu: „Möge uns die Hitze in diesem Sommer 1913 nicht das Gehirn einschläfern.“ Alles lachte und prostete dem Hotelbesitzer mit gut gekühltem Bier zu.

Hotel Vier Jahreszeiten - zeitgenössische Postkarte (Ausschnitt)
Hotel Vier Jahreszeiten – zeitgenössische Postkarte (Ausschnitt)

Turnusmäßig trafen sich die Herren des nichteingetragenen Vereins zur Sammlung von Dresdner Anekdoten. Ein Verein in dem sich Geschäftsleute aus der Dresdner Neustadt zusammenfanden, die humorvoll und nicht bierernst Abstand vom Alltag gewinnen wollten. Und „nichteingetragen“ deshalb, weil man sich Statuten und die Kosten der Eintragung ins Vereinsregister sparen wollte. Die einzige Aufgabe, der sich aber jeder stellen musste, war, dem monatlichen Treffen eine Anekdote beizusteuern. Und natürlich wurden die Angriffe auf Bauchmuskeln und Gehirnwindungen mit entsprechenden Getränken abgemildert.

Für die Gattinnen der Vereinsmitglieder waren diese Treffen nichts anderes als Gelegenheiten zum Saufen. Aber solange ihre Männer das Geld nicht in Hurenhäuser brachten, war es ihnen Recht.

Eine alte Zeitung

Als erstes meldete der Vorsitzende seine Wortmeldung an. Heinrich Mantsch, der Inhaber des Geschäftes für Meißner Porzellan und Luxuswaren, gegenüber den Vier Jahreszeiten gelegen, rückte sein Monokel zurecht, räusperte sich und nahm einen Zug von seiner Zigarre. Genüsslich blies er den Rauch in Kringeln aus, was Heiterkeit am Tisch auslöste und die Erwartungen steigerte.

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„Ich habe durch Zufall beim Entrümpeln meines Kellers eine alte Zeitung von 1907 gefunden. Darin fand sich ein Artikel über einen Amerikaner, der im Jahre 1786 Sachsen besuchte und hier in Dresden Station machte.“1

Ein Amerikaner in Dresden

Damit hatte der Luxushändler die Aufmerksamkeit seiner Vereinsfreunde. „Zunächst regte sich der Herr aus Übersee darüber auf, dass, sobald es finster wurde, man nach Verlassen eines Wirtshauses, im Freien wirklich im Finstern stand. Es sei denn, man hatte nicht alles Geld in der Schenke versoffen und man hatte rechtzeitig einen Laternen- oder Fackelträger reserviert, der den schwankenden Zecher heimleuchtete.“

Dresdner Salonblatt von 1907
Dresdner Salonblatt von 1907

Das erheiterte den Standesbeamten Alois Neumann, der seine Wirkungsstätte im Stadthaus auf der Königstraße 14 hatte, so sehr, dass er mehrmals seinen Bierhumpen auf den Tisch donnerte. Auch der feine und dürre Blattgoldfabrikant Hermann Müller aus der Großen Meißner 17 stimmte, ob der Wortwahl, in das Gelächter ein. „Gut gesprochen, lieber Mantsch.“ Und der fuhr fort.

An Vergnügungsmöglichkeiten war damals leider nicht viel vorhanden, erzählte der Luxushändler. Aber das ließ die lieben Dresdner aller Schichten nicht verdrießen. Im Winter verweilte man ab 6 oder 7 Uhr abends im Wirtshaus, des Sommers in den Gärten außerhalb der Stadt bei Spielchen, wie Kegeln. Oder man beglückte das Linckesche Bad, nicht weit von hier elbaufwärts. „Was diesem Amerikaner aber auffiel, war, dass die Dresdner aus den höheren Klassen mehr für ihre Vergnügungen aufwandten, als es die Geldbörsen eigentlich zuließen. Und zu diesen höheren Klassen zählte er auch die Kaufmannschaft, also unsereins, meine Herren.“

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Töchter im heiratsfähigen Alter

Und Möglichkeiten zum Vergnügen gab es damals zuhauf: Privatsoireen mit kleinen Hauskonzerten oder Kaffeekränzchen für die Damen und lüsterne bartlose junge Männer, die die Weiblichkeiten umflatterten, wie die Motten den Kerzenschein. Da soll das Basemannsche Kaffeehaus die erste Wahl gewesen sei, weil dort die Kurfürstliche Hofkapelle aufspielte. Oder man besuchte das Hoftheater mit seinen Schauspielen und Komödien. Zweimal wöchentlich gab es Opern. Aller zwei Wochen war Hofball angesagt und dazwischen luden die Gesandten anderer Länder zu Vergnügungen ein, wo sich alles versammelte, was in der Residenz Rang und Namen hatte.1

Mit der Zeit kannte jeder jeden. Man schmorte quasi im eigenen Saft. Jede neue Soubrette am Theater wurde in den Gesellschaften herumgereicht. Jeder Ausländer, der natürlich von Stand sein musste, verbrachte seine Abende kostengünstig in vielen Privatgesellschaften. Töchter im heiratsfähigem Alter wurden in die hohe Gesellschaft eingeführt und lukrative Ehen angebahnt. Zuallererst aber waren diese Veranstaltungen Abwechslungen im Einerlei des Alltags sowie Börsen des Klatsches und wurden herbei gesehnt wie Weihnachten, Ostern und Geburtstage.

„Hatte denn der Amerikaner überhaupt nichts zu mäkeln?“, wandte Carl August Bauer, der Instrumentenhändler, der sein Geschäft auf der Hauptstraße 27 gleich neben dem Café Pollender hatte, ein. „Das schon“, antwortete der Vereinsvorsitzende. „Dresden hatte zwar ob seiner Kunstsammlungen einen guten Ruf, aber die Wunden des Siebenjährigen Krieges und der Verlust der polnischen Krone heilten nur langsam. Und nur mühsam rappelte sich die Residenz aus ihrer Provinzialität raus. Der Amerikaner soll, laut besagtem Artikel gesagt haben, dass sich des Sonntags die vermögenden Dresdner und die, die sich dafür hielten, zum verbotenen Glücksspiel trafen, wo manches Vermögen den Besitzer wechselte.“1

Ein Sachse in Monte Carlo

„Da habe ich auch was beizusteuern“, rief Theodor Reimann, seines Zeichens Bambusmöbelverkäufer und Hoflieferant aus der Königstraße 3. „Und zwar über einen Dresdner, den es in die Spielbank des kleine Fürstentums Monaco ans Mittelmeer verschlug.“2 Das interessierte die Geschäftsleute und man bestellte eine weitere Bierrunde, diesmal mit Kompott.

„Die Geschichte soll sich vor sieben Jahren zugetragen haben. So stand es zumindest in der Zeitung. Der Name des Dresdners tut nichts zur Sache, war aber wohl nicht ganz unvermögend. Er beschrieb seinen Aufenthalt in diesen Zwergstaat. Das berüchtigte Kasino und dessen fürstliche Gesellschaft nannte er GmbH. Im Wortlaut: Gaunerei mit beiden Händen.“ Lachen und Beifall brandete im Salon der Vier Jahreszeiten auf.

„Besagter Dresdner offerierte der geneigten Leserschaft, dass die Spieler im Kasino Tag und Nacht ihrem Rausche frönten, bis das Geld den Weg allen Irdischen gegangen sei. Gewinner war natürlich letztendlich die Bank, sprich das Kasino, sprich der Landesfürst. Darum brauchten seine Untertanen auch keine Steuern zahlen.“ Letzteres würden sich die Herren am Salontisch auch für das Königreich Sachsen gewünscht haben.

Aber das Problem im fernen Monte Carlo waren die vielen Selbstmorde, die die Folge der verspielten Vermögen waren. Und deshalb fragte unser Dresdner Reisender den Direktor der Spielbank, ob es im Kasino oder in anderen Hotels keine besonderen Salons für Selbstmörder gäbe. Schließlich besaß die Bank schon das ganze Geld der Pechvögel. Da könne man doch ein etwas freundliches Entgegenkommen zeigen. Freilich komme ein Selbstgemordeter nicht wieder. Aber es kommen doch immer wieder Lebende, die Selbstmörder werden wollen, wenn sie alles verloren haben. Für die müsse doch gesorgt werden.2

Kein Salon für Selbstmörder

Der Direktor betrachtete den Herrn aus dem fernen Sachsen erst irritiert, dann wie ein Wesen aus fernen Welten. Schließlich entgegnete er nasal von oben herab, dass man für solche Räume keinen Platz habe. Es gäbe hier keinen Salon, wo der aus dem Leben Scheidende einen Augenblick angenehm verweilen könne, wo er Papier, Tinte und Feder finde, um seinen Angehörigen eine Nachricht zukommen lassen könne.

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Es gäbe auch keinen Salon, wo er einen Strick, einen festen Nagel, ein Fläschchen Gift oder einen Revolver und ähnliche Bequemlichkeiten vorfände, ohne die es ein verwöhnter Selbstmörder nicht täte. „Unter freiem Himmel ist so viel Gelegenheit gegeben, um bequem aus dem Leben zu scheiden. Wir haben keine Verpflichtung, dem Spieler den Tod angenehm zu machen. Warum gewinnt er nicht? Den Schädel zu sprengen, ist keine Kunst. Man muss die Bank sprengen!“2

Darauf folgten Lachen, Schenkelklopfen und ein Zuprosten mit weiteren Runden sowie die Erkenntnis, mit diesem Verein wieder einmal einen schönen Abend verbracht zu haben.

Anmerkungen des Autors

1 Dresdner Salonblatt 1907
2 Dresdner Salonblatt 1906


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.