Die Genossen von der KPD-Landeszentrale ließen sich nicht lumpen, den rund 300 Teilnehmern der von ihnen beherrschten Versammlung des „Revolutionären Erwerbslosenrates“ in der Reichskrone an der Königsbrücker Straße, Ecke Bischofsweg an diesem Dienstag, den 31. Juli 1923 eine Bockwurst mit Brötchen und ein Bier zu spendieren. Seit nahezu zwei Stunden diskutieren sie über die Folgen des Antifaschistentages am vergangenen Sonntag.1
Die Elite der Erwerbslosen
Adolf August Blecher, KPD-Mitglied, Malergehilfe, arbeitslos und Sohn Erich, 17, ebenfalls ohne Arbeit und Jungkommunist lassen die Reden über sich ergehen und genießen Wurst nebst Bier. Dass sie ein kommunistischer Funktionär schmeichlerisch als die Elite der Erwerbslosen bezeichnete, ging runter wie Öl. Mutter Erna hätte in ihrer pragmatischen Art nur abgewunken. „Blödes Geschwätz. Davon werde man nicht satt.“ Vater Blecher reagierte auf solche Sprüche seiner Erna stets genervt und erwiderte, dass sie von Klassenkampf halt keine Ahnung hätte. Typisch Frau eben. Man wolle hier in Deutschland ein Sowjetreich schaffen, ohne Ausbeutung eben, wie in Russland. Dann hätte man genug zu essen und Arbeit für alle. Von nix komme nix.
Dann durfte Erich im Auftrag seiner Jungkommunisten-Gruppe sprechen und seine Eindrücke vom Antifaschistentag am 29. Juli 1923 darlegen. Aufgeregt, mit hochrotem Kopf, der sich der Farbe der Arbeiterfahne annäherte, aber selbstbewusst und laut sprach er über den Sternmarsch von der Hechtstraße über die Augustusbrücke zum Altmarkt, über die vielen roten Fahnen mit Sowjetemblemen, über die Losungen „Faschisten an den Galgen“, „Ohne Blut kein Recht“ oder „Schützt euch vor Aasgeiern“. Erich wetterte gegen den Putschisten Hitler in München und gegen die Sozialdemokraten, die sich dem Marsch verweigerten. Zum Schluss attackierte er die Reichsregierung und das ausbeuterische Bürgertum und rief er unter tosendem Beifall ein „Hoch auf die proletarische Front im Bürgerkrieg“ in den Saal.3 Vater Blecher klopfte ihm anerkennend und stolz auf die Schulter.
Auf zum Rathaus
Nach drei Stunden Debatte beschloss man, am darauffolgenden Tag mit einem erweiterten Revolutionären Komitee zum Rathaus in der Altstadt zu ziehen und dort die Forderungen der Erwerbslosen zu übergeben: Erhöhung der Erwerbslosenunterstützung um 300 Prozent; wöchentliche unentgeltliche Beihilfen von 15 Pfund Kartoffeln, ein Pfund Mehl und ein halbes Pfund Fett pro Kopf sowie einen Zentner Kohle für Verheiratete; Bezahlung der vollen Mieten für die länger als einen Monat Erwerbslosen und Erweiterungen anderweitiger Hilfen durch die Fürsorge.1
Ein geplanter Demonstrationszug zum Rathaus fiel mangels Masse aus. Und so ging die auf zehn Mitglieder erweiterte Delegation des Aktionsausschusses ins Rathaus. Damit hatte der Ausschuss die KPD-Dominanz abschütteln können. Da die davor versammelten etwa 300 Sympathisanten den Platz nicht räumen wollte, griff die Polizei ein und trieb sie weg. Die meisten gingen nach Hause. Auch der Ausschuss erreichte beim Bürgermeister, der sie dennoch empfangen hatte, nichts.2
Das Leben wird teurer
Der Wechselkurs des Dollar zur Papiermark betrug Anfang August mehr als eine Million.4 Eine einfache Straßenbahnfahrt kostete 7.000 Mark. Lebensmittel wurden teuer und zudem noch knapp. Die Arbeitslosigkeit nahm nur unter den Facharbeitern etwas ab.5 Diese waren meist in der SPD organisiert, während in der KPD vor allem viele ungelernte Proletarier Mitglied waren. Durch die mangelnden Zulieferungen kam es auch in vielen Industriezweigen zu Entlassungen. Und das brachte viele Menschen auf.
Die Lösung schien so nah
Am Freitag, den 3. August 1923 verschärfte sich die Lage. Der Aktionsausschuss rief zu einer Hungerdemonstration auf. Dabei auch Jungkommunist Erich Blecher. Mit seinen Freunden lauschte er den Kampfreden ihm unbekannter Leute, die erklärten, man müsse den Verboten der Polizei und der Herrschenden nicht folgen. Die Erwerbslosen lassen sich nicht mit billigen Unterstützungen beruhigen. Die Regierungen in Berlin und hier in Sachsen helfen nicht. Es bleibe nur der Bürgerkrieg. Nach diesem werde eine revolutionäre Arbeiterregierung alles in Ordnung bringen, so der Redner.2
Die Polizei griff ein. Ein Teil der jungen Demonstranten wehrte sich mit Steinen, die sie aus dem Platz rissen und mit Messern, mit der sie die Pferde der Polizei attackierten. Nur der einsetzende Starkregen trieb sie auseinander und verhinderte Schlimmeres.
Als sich tags darauf der Aktionsausschuss wieder in der Reichskrone versammeln wollte, machte die Polizei kurzen Prozess und verhaftete einige lautstarke Mitglieder und schickte den Rest nach Hause.
Man radikalisierte sich
Doch viele, vor allem junge Leute, fanden Spaß am Revoluzzerdasein. Nun griff man die kleinen Geschäfte in der Altstadt als die angeblich Schuldigen am derzeitigen Versorgungselend an, zertrümmerte Schaufenster, zerstörte in den Cafés das Geschirr, vertrieb die Gäste, ohne dass sie zahlten konnten und verprügelte die Inhaber. Allein ein Café auf der Ringstraße hatte einen Schaden von mehr als einer halben Milliarde Mark. So soll auch ein Fabrikant aus seiner Wohnung geholt und schwer misshandelt worden sein. Auf der Straße erkannte Polizisten in Zivil wurden grün und blau geschlagen.6
Doch der Großteil der Arbeiterschaft wollte weder Revolution noch Bürgerkrieg. Vorerst7. Und so verebbte einen Tag später das Aufbegehren. Die bekannten Rädelsführer wurden verhaftet und verurteilt. Die anderen sorgten sich wieder ums Überleben ihrer Familien.
Zwischen Vater und Sohn Blecher drifteten nach diesen Krawalltagen die Ansichten darüber auseinander. Reden und Diskutieren sei das eine für Adolf August. Aber diese menschenverachtenden Angriffe auf unschuldige Leute und diese Zerstörungswut gegen die Lebensgrundlagen der kleinen Gewerbetreibenden gingen ihm viel zu weit. Für den Sohn Erich konnte es nicht radikal genug zugehen. Klassenkampf sei Klassenkampf und wo gehobelt wird, fallen eben auch Späne. Dieses ganze System muss weg, so seine Ansicht. Trotzdem – der Bürgerkrieg wurde erst einmal abgesagt.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Volkszeitung vom 1. August 1923
2 Dresdner Volkszeitung vom 4. August 1923
3 Dresdner Nachrichten vom 30. Juli 1923
4 Nur ein paar Tage später waren es mehr als 4 Millionen Mark, die man für einen US-Dollar hinblättern musste.
5 Dresdner Nachrichten vom 29. Juli 1923
6 Dresdner Nachrichten vom 6. August 1923
7 Im Oktober 1923 trat die KPD in die sozialdemokratisch geführte sächsische Landesregierung ein. Nach nur drei Wochen setzte die Reichswehr im Auftrag der Reichsregierung diese erste Linksregierung in Deutschland recht undemokratisch ab.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.
Die Säulen vom ehemaligen Ballsaal stehen im Hinterhof.
Meines Wissens sind das nicht die Säulen aus dem alten Ballsaal, sondern andere.
Diesmal nicht nur unterhaltsam sondern auch zum Nachdenken anregend.
Sehr schön!
Trotzdem:
„Milliarde Mark8“ und „Zwischen Vater und Sohn Blecher trifteten“ sollte noch nachgebessert werden.
Danke. Korrigiert.
Jetzt bitte noch die „Führsorge“ und „Ein auf der Straße erkannte Polizisten in Zivil wurden grün und blau geschlagen.“ korrigieren.
Danke. Korrigiert.